Wie schon gestern, erkunde ich heute den Norden der Insel. Vorher spaziere ich durch bisher unentdeckte Straßen der Neustadt und bin über die große Anzahl der hier befindlichen Restaurants überrascht. Da wird die Auswahl am Abend schwer fallen.
Nachdem ich mich mit frischer Wegzehrung ausgestattet habe, fahre ich auf den Filérimos. Der Hügel ist zwar absolut gesehen nicht besonders hoch, jedoch die wichtigste Erhebung im Umkreis und war damit seit Tausenden von Jahren das primäre strategische Ziel für jeden, der die Insel kontrollieren wollte. Und das waren von den Archäern in mykenischer Zeit bis hin zur deutschen Besatzung eine beachtliche Menge.
Die in schwungvollen Kurven den bewaldeten Berg hinaufführende Straße ist für meinen Geschmack etwas zu gut ausgebaut. So bin ich nicht verwundert, bereits um 9 Uhr morgens sechs Reisebusse auf dem Parkplatz vorzufinden. Neben den Menschenmassen wird die Bergkuppe von Dutzenden Pfauen bevölkert, deren laut krächzende Rufe das gesamte Areal erfüllen.
Vom Parkplatz führt ein neuzeitlicher Kreuzweg zum überdimensionalen Gipfelkreuz, das zwar prinzipiell begehbar, aber leider verschlossen ist. Nichtsdestotrotz ist die Aussicht von der windumtosten Plattform beeindruckend. Sie reicht von Ialysós an der Westküste über den Flughafen bis weit hinein ins Inselinnere. Überraschend taucht im Südwesten ein weiterer, mir bisher unbekannter Flughafen auf. Er wurde im zweiten Weltkrieg von den Italienern erbaut und wird von Sportfliegern und für Rennsport-Veranstaltungen bis heute verwendet. Ein halb überwachsener Pfad führt zum Nordhang des Gipfels. Von den Überresten alter Bunkeranlagen hat man einen guten Blick über das Meer bis hin zur Insel Sými und der nahen türkischen Küste.
Im Osten des Areals finden sich die Überreste einer seit 3500 Jahren bestehenden Besiedlung. Auch wenn es sich um eine reiche Fundgrube für Archäologen handelt - was heutzutage der Allgemeinheit präsentiert wird, ist den Eintrittspreis von 6 € nicht wert. Neben einer restaurierten Ritterkirche und einem kleinen Kloster - beides nur von außen zu besichtigen - findet man verstreute Trümmer einer byzantinischen Festung und ein kreuzförmiges Taufbecken aus derselben Zeit. Am interessantesten erscheint mir die halb im Erdreich vergrabene Höhlenkapelle, die vollständig mit mittelalterlichen Fresken ausgemalt ist.
Am frühen Mittag ziehen Schleierwolken auf. Ich beschließe, die Gelegenheit der verminderten UV-Intensität für mein erstes Sonnenbad in diesem Jahr zu nutzen und steuere dazu den Tsambíka-Strand an der Ostküste an. Die recht große Bucht mit ihrem breiten, von Dünen gesäumten feinsandigen Strand ist eine der beliebtesten der Insel. In dieser Jahreszeit ist es hier nicht überlaufen, jedoch belebt genug, dass alle Strandbars geöffnet haben. Das Meer ist kälter, als ich erwartet hatte, sodass ich mich nicht lange im Wasser aufhalte, sondern zwei Stunden entspannt auf einer gemütlichen Liege verbringe.
Zeit ist hier keine tickende Uhr, sondern ein Raum, den man öffnen kann.
(Sylvia Roth)
Nach dieser trägen Mittagspause ist nun wieder etwas Bewegung angesagt. Im Norden wird die Bucht von einem steilen Hügel begrenzt, auf dessen Gipfel sich die kleine Klosterkirche Panagías Tsambíkas Kyrás befindet. Die Straße endet auf halber Höhe, dann erwartet den Pilger eine Treppe aus 300 unregelmäßig langen und unangenehm schrägen Stufen. Die Anstrengung wird mit einem wirklich wundervollen Blick hinunter auf den Tsambíka-Strand vergolten.
Abgesehen von dieser Aussicht ist das Kirchlein ein bekanntes Ziel ungewollt kinderloser Frauen. Immer wieder werden Pilgerinnen, die hier eine Nacht verbringen, von der Jungfrau Maria mit der Erfüllung ihres Kinderwunsches belohnt. Davon zeugen zahlreiche Devotionalien, die vor der wundertätigen Großikone dargebracht wurden: Viele Silberbleche mit Babyreliefs und ein ganzer Korb voller Bienenwachskerzen in Babygestalt. Kinder, die ihre Existenz diesem Wunder verdanken, werden übrigens traditionsgemäß auf den Namen Tsambika oder Tsambikos getauft.
Anschließend wende ich mich von der Küste ab und fahre ins Inselinnere. Eigentlich hatte ich geplant, im Ort Eleoúsa einen Kaffee zu trinken, aber die einzige Sehenswürdigkeit des Ortes, der ehemalige italienische Gouverneurspalast, wirkt so schäbig und der Ort so verschlafen, dass mir der Durst vergeht. Hinter Eleoúsa führt die Straße durch wunderschönen gemischten Bergwald über den Pass des Profítis Ílias, den mit knapp 800 Metern zweithöchsten Berg der Insel. Die Straße erreicht respektable 0,8 auf meiner persönlichen Bergstraßen-Bewertungsskala, das bedeutet puren Fahrspaß! Ich fahre ohne Pause bis zur Nordküste und weiter in Richtung Rhódos-Stadt. Erst in Kremastí lege ich eine Pause ein, um mir ein Eis und einen Kafé frappé auf dem gepflegten Dorfplatz zu gönnen, wo man trotz des starken Durchgangsverkehrs recht angenehm sitzt.
Zurück in der Stadt besuche ich den Rodini-Park, der sich in einem kleinen Tal idyllisch entlang eines Bachs erstreckt. Kirchturmhohe Zypressen, uralte von Efeu überwucherte Platanen und andere unbekannte Bäume verleihen dem Park eine verwunschene Atmosphäre und lassen einen unwillkürlich nach dem Dornröschenschloss Ausschau halten. Das Bachbett teilen sich Oleander und Schilf, dazwischen suchen frei umherlaufende Kühe nach Fressbarem. Antike Kulthöhlen in den Felswänden ergänzen das pittoreske Gesamtbild. Auch wenn sich die Holzbrücken nicht alle in einem vertrauenswürdigen Zustand befinden, ist der schattige Park ein perfekter Ort für einen Feierabend-Spaziergang.
Vor dem Essen packe ich meine Siebensachen, da heute mein letzter Abend in der Stadt ist. Nach Sonnenuntergang durchstreife ich die Neustadt und entscheide mich letztlich für ein kleines familiär geführtes Restaurant, eines der wenigen ohne Bilder-Speisekarte. Ich nehme die Spezialität des Hauses, die Sultan-Platte. Es ist eine mit reichlich Zimt und etwas Curry deutlich orientalisch angehauchte Schweineschulter mit Backofenkartoffel, dazu Tsatsíki und das bewährte Mýthos-Bier. Das Essen ist sehr lecker, mit 20 € jedoch nicht gerade preiswert. Wie an den Vortagen besuche ich anschließend die kleine Loggia-Bar am Ippokrátou-Platz, wo ich als Stammkunde inzwischen mit einem zusätzlichen Oúzo "für gute Freunde" begrüßt werde.