Am Morgen hängen die Wolken mal wieder sehr tief - tatsächlich nur wenige Meter über Atháni. Aber nach den Erfahrungen von gestern schere ich mich nicht darum, umso weniger, als ich mir für heute die Nordhälfte der Insel aufs Programm geschrieben habe. Und tatsächlich: Als ich in Léfkas-Stadt eintreffe, ist es nur noch leicht bewölkt. Den Wagen parke ich am Hafen und erkunde die Stadt zu Fuß. Das macht hier besonders viel Sinn, da die überwiegende Anzahl der Gassen in der Innenstadt so schmal ist, dass nicht mal die Einheimischen mit dem Auto durchkommen, und das will in Griechenland schon was heißen. Überhaupt ist das Stadtbild zuerst einmal sehr ungewöhnlich und es braucht etwas Zeit, den sehr wohl vorhandenen Reiz des Ortes zu entdecken. Die Häuser sind flach, mit nur einem, selten zwei Obergeschossen gebaut. Diese sind wegen der starken Erdbebengefahr traditionell als Holz-Fachwerk auf das steinerne Erdgeschoss aufgesetzt. Da viele Häuser zudem mit Wellblech verkleidet sind, ergibt sich ein etwas barackenartiges Äußeres, was überhaupt nicht zu den hübsch in Pastellfarben gestrichenen Fassaden passt. Zwischen den eng stehenden Häusern verläuft ein labyrinthisches System enger Gassen. Das i-Tüpfelchen sind die Glockentürme der Kirchen, die - eben wegen der Erdbebengefahr - aus Stahlprofilen zusammengeschweißt sind. Wie gesagt: Das Stadtbild ist gewöhnungsbedürftig, hat allerdings einen ganz eigenen Charme, der mich rasch in seinen Bann zieht.
Die Haupteinkaufstraße ist ein Biotop für sich. Geschäftig, voller Autos und Fußgänger, die alle die Vorfahrt für sich beanspruchen, laut, eng, chaotisch - eben typisch griechisch. Wer mich kennt, wird den nächsten Schritt voraussehen: Der Ort schreit geradezu nach einem Kafé frappé. Ein passendes Kafenion ist schnell gefunden, und so habe ich für die nächste Stunde einen ausgezeichneten Platz. Ja, es ist wahr: Das Beste am Urlaub in Griechenland ist es, bei schönem Wetter in einem Kafenion an einer belebten Straße oder Platz zu sitzen und die Menschen zu beobachten.
Wer das Leben sieht, wie es ist, wird nicht enttäuscht.
(Sylvia Wetzel)
Anschließend setze ich meinen angefangenen Stadtbummel fort. Die Hauptstraße führt zum zentralen Ortsplatz, auf dem sich offenbar die ganze Insel trifft. Nicht nur Touristen oder junge Leute, auch die traditionell schwarz gekleideten Witwen und sogar Popen sehe ich hier sitzen. In den Wohngebieten abseits der Einkaufsstraßen hat man stellenweise das Gefühl, durchs Wohnzimmer zu gehen, so eng sind die Gassen. Auch hier findet sich Zerfall in unmittelbarer Nachbarschaft zu schön renovierten Häusern, verwilderte Gärten neben üppig blühenden kleinen Paradiesen. Dazwischen sind einige winzige Werkstätten, in denen man Handwerkern wie Schneider, Schreiner oder Ikonenmaler bei der Arbeit zusehen kann. Nach dem spröden ersten Eindruck bleibt Léfkas als eine Stadt in Erinnerung, in die man sich verlieben könnte.
Vor dem Mittagessen, für das ich schon während des Stadtbummels ein sehr einladendes Estiatório ausgewählt habe, besuche ich die beiden alten Zitadellen nördlich der Stadt. Dazu überquere ich die Brücke, die Léfkas mit dem Festland verbindet: Es ist eine ehemalige Fähre, die fest verankert im schiffbaren Kanal liegt und in regelmäßigen Abständen ihre Rampen hochklappt, um wartende Schiffe passieren zu lassen.
Unmittelbar hinter der Brücke liegt die Ruine des venezianischen Forts Santa Maura (ngr.: Agía Mávra). Von der ehemals starken Befestigungsanlage stehen fast nur noch die Außenmauern, da die komplette innere Struktur durch einen Blitz zerstört wurde (er traf das Pulvermagazin). Im Inneren der Ruine steht die Luft - es ist heiß und es duftet nach Feigenbäumen und Kräutern. Die Szenerie erinnert mich enorm an Methóni - nur fehlt in der flachen Lagune das Geräusch der Brandung.
Während die Venezianer darauf bedacht waren, dass niemand unerlaubt die Insel betrat, hatte man in der gegenüberliegenden osmanischen Festung Gríva (türk.: Tekes) die umgekehrte Richtung ebenso wachsam im Auge. Diese Burg liegt auf einem kleinen Hügel, aber das bedeutet nicht, dass dort ein frischerer Wind wehen würde. Die gut erhaltenen Gewölbe werden von den Hirten der Nachbarschaft als Stallungen benutzt, wie der zahlreich vorhandene Ziegenkot beweist. Von den Mauern, auf denen wild wachsende Artischocken blühen, hat man einen schönen Überblick über die ausgedehnte, flache Lagunenlandschaft.
Zum Mittagessen fahre ich an den lefkadischen Windmühlen vorbei in die Stadt zurück und kehre wie geplant im "Kato Vrisi" ein, wo traditionelle Gerichte in großen Töpfen auf hungrige Gäste warten. Nachdem ich mir den Inhalt der Töpfe habe erklären lassen, fällt meine schwere Wahl auf ofengeschmortes Lammfleisch mit Kartoffel-Achteln, das ich mit einer gefüllten Riesentomate kombiniere. Das Essen ist superb und jeden der vielen Cents wert.
Mein nächstes Ziel ist der Wasserfall von Ráchi. Der Weg dorthin führt über die streckenweise idyllisch verlaufende Küstenstraße an der Ostküste entlang nach Nidrí. Zum Glück muss ich den Ort nur durchqueren und nicht lange ertragen, denn er ist schon in der Vorsaison so touristisch, dass mir bei der Vorstellung an einen Hochsommer in diesem Ort ganz übel wird. In Nidrí verlasse ich die Küstenstraße und wende mich den Bergen zu, passiere die wenigen Häuser von Ráchi und lasse meinen Wagen am Ende der asphaltierten Straße stehen. Von dort aus führt ein schmaler Pfad durch eine enge, üppig bewachsene und schattige Schlucht die letzten 500 Meter bis zum Wasserfall.
Außer mir sind nur zwei Paare in der Schlucht, sodass der Naturgenuss nicht gestört wird. Das laute Quaken der Frösche ist schon von weitem zu hören, beim näher kommen springen sie reihenweise in die glasklaren Fluten. Süßwasserkrabben schauen dem Treiben gleichgültig zu, gelb-orange Schmetterlinge flattern übermütig umher: Ein paradiesisches Plätzchen. Zum Ende des Weges müssen einige nasse und teilweise glitschige Felsbarrieren überklettert werden, dann ist das Ziel erreicht. Der Fall ist jetzt im späten Mai zwar nicht mehr sehr wasserreich, aber immer noch wunderschön. Zum Baden ist der kleine Tümpel, den das ca. 15 m tief fallende Nass ausgewaschen hat, allerdings viel zu kalt. Dafür kann man auf einigen höherliegenden Felsen direkt am Wasserfall herrlich sitzen und die malerische Szenerie genießen.
Bevor ich zum Baden zurück an die Westküste fahre, mache ich noch einen Abstecher in die Berge, lediglich der Aussicht wegen. Zuerst durchquere ich große Olivenhaine voll leuchtendem Mohn, dann führt die Straße nach Neochóri in steilen Kehren bergauf und man hat schnell einen schönen Blick auf die Bucht von Vlichó. Die abwechslungsreiche Mischung aus grün und blau, aus Meer und Inseln ist einzigartig und trotz der nicht ganz klaren Luft beeindruckend. Je höher die Straße führt, desto grandioser wird das Panorama.
Mit fortschreitendem Nachmittag wird es immer sonniger. Als ich an Vasilikí vorbei fahre, lösen sich eben die letzten Wolken auf. So erreiche ich die Bucht von Pórto Katsíki genau bei dem Licht, das dieses Strandes würdig ist. Und tatsächlich: Die hohen Erwartungen, die Prospekte und Reiseführer aufbauen, werden nicht enttäuscht - im Gegenteil: Kein Photo kann die Realität auch nur annährend abbilden. Zu Füßen der weißen Kalksteinklippen, die senkrecht abfallen, liegt der cremeweiße Sandstrand vor einem atemberaubend vitriolblauen Meer, dessen Farbintensität schon beinahe unwirklich erscheint. Als hätte die Natur absichtlich eine passende Aussichtsplattform für diese Kulisse erbauen wollen, ragt ein großer Felsen am Rand der Bucht in die Fluten. Über eine "Mutproben-Treppe" lässt sich der Felsen, von dem aus sich das perfekte Panorama genießen lässt, mühelos besteigen.
Zur Linken öffnet sich die Steilküste zu einer "Blauen Grotte", nach Süden hin erstreckt sich einer der bekanntesten griechischen Traumstrände. Vom Parkplatz aus führt eine Treppe zum Strand hinunter, der um diese Uhrzeit bereits fast menschenleer ist. Unverständlich, denn am Nachmittag, wenn die Sonne unvermindert in die geschützte Bucht scheint, ist die Hitze bestimmt unerträglich, selbst jetzt, gegen 18:00 Uhr, hat es hier noch perfekte Badetemperatur. Das Wasser ist erfrischend, aber nicht zu kalt, und die einen halben Meter hohen Wellen vervollkommnen den Badespaß. Ich muss mir selbst eingestehen, dass diese Bucht tatsächlich mit der von mir so sehr geschätzten Fakístra-Bucht mithalten kann. Je tiefer die Sonne sinkt, je goldener die Klippen glänzen, desto einsamer und phantastischer wird es hier.
Ich bedauerte, dass niemand dieses überwältigende Geschenk mit mir geteilt hatte, es war fast
zuviel, um einen einzelnen Menschen damit zu beglücken.
(Henry Miller)
Als ich am Abend in meiner Pension eintreffe, begrüßt Thomas mich mit einem Kafé frappé. Seine unaufdringliche Gastfreundlichkeit ist wirklich toll. Als ich mich zum Abendessen auf der Terrasse des "Panoramic View" niederlasse, quellen wieder leichte Wolken auf und verleihen dem Sonnenuntergang eine stimmungsvolle Tönung. Noch bevor ich das Essen bestelle, bringt Thomas schon mal ein Mythos. Er hat es sich gemerkt! Da ich aufgrund des reichhaltigen Mittagessens keinen wirklichen Hunger verspüre, begnüge ich mich mit zwei Vorspeisen, einem Tsatsíki und einem Fischrogenpüree (Taramosaláta). Während ich meine Zigarre genieße und in Gedanken den Tag Revue passieren lasse, serviert Thomas noch einen Oúzo und eine große Portion Joghurt mit Honig als Nachspeise. Der Mann kann Gedanken lesen...
Zum Abschluss des perfekten Tages mache ich einen kleinen Spaziergang bis über die Dorfgrenze hinaus. Der Wind hat auf Osten gedreht und die Wolken fortgeblasen. Es ist faszinierend, wie still die Welt sein kann und wie hell die Sterne und ein halber Mond scheinen können.