Um 8 Uhr startet mein Tag. Es ist bewölkt, aber trocken - für die heute vor mir liegende lange Fahretappe durchaus akzeptabel. Getragen vom morgendlichen Berufsverkehr durchquere ich die Stadt und erreiche die Autobahn in Richtung Westen. Diese Strecke, die ich bereits mehrfach gefahren bin, ist zunächst langweilig, aber immerhin wird das Wetter zusehends freundlicher. Hinter Véria durchquere ich dann das Vérmion-Gebirge, gefolgt von der leicht hügeligen Landschaft zwischen Kozáni und Siátista. Das Píndos-Gebirge wird größtenteils unterfahren. Insgesamt waren 47 Tunnel vonnöten, um die Autobahn durch die wilde Natur zu vollenden. Die Fahrzeit vom Zentrum Thessaloníkis bis Ioánnina beträgt deswegen nur gut drei Stunden.
Eigentlich liegt Ioánnina nicht direkt auf meiner Route, aber angesichts des strahlenden Sonnenscheins auf dieser Seite des Gebirges entscheide ich mich spontan, die wenigen Kilometer Umweg in Kauf zu nehmen, um in der Stadt eine kleine Pause einzulegen. Mindestens zwei weitere Stunden Gebirgsstrecke liegen immerhin noch vor mir. Hier, am Seeufer im Schatten frisch ergrünter Platanen, genieße ich den ersten Kafé frappé dieser Tour. Jetzt hat das Urlaubsgefühl seine volle Ausprägung erreicht!
Auf dem Rückweg zum Auto spaziere ich die Promenade entlang. Die vom See her wehende Brise mildert die intensive Sonne und in der Ferne glänzen die noch immer schneebedeckten Gipfel des Tzoumérka-Massivs, welche die Richtung zu meinem nächsten Ziel vorgeben.
Nach der Überquerung des Árachthos-Oberlaufs wird die Fahrt zu einer Herausforderung: Kurve folgt auf Kurve, Serpentine auf Serpentine, mal mehr, mal weniger steil geht es kontinuierlich bergan, ein höherer als der zweite Gang ist unmöglich. Schlaglöcher, wassergefüllt und damit in der Tiefe kaum einschätzbar, sind nur ein Teil der möglichen Gefahren. Durch die starken Regenfälle der vergangenen Tage gibt es zahlreiche frische Bergrutsche, deren Geröll- und Felsbrocken noch nicht fortgeräumt werden konnten. Ebenfalls erwähnenswert sind plötzlich hinter einer Kurve auftauchende Kühe, die nur äußerst widerwillig die Fahrbahn freigeben. Alles in allem ist die zweistündige Fahrt zwar anspruchsvoll, aber sehr schön. Die Berglandschaft ist traumhaft, die Natur intakt und die Streckenführung ist eines Griechenland-Urlaubs absolut würdig.
Jeden Augenblick verändert sich schwebend die griechische Landschaft; während sie dennoch
dieselbe bleibt, lässt sie ihre Schönheit wogen, erneuert sie sich.
(Nikos Kazantzakis)
Gegen 15 Uhr erreiche ich mein Ziel: Syrráko (modern auch Siráko) war über Jahrhunderte das Wirtschafts- und Handelszentrum dieser abgelegenen Region. Heutzutage ist der Ort nur von wenigen Menschen dauerhaft bewohnt und erwacht nur im Frühling und Sommer zum Leben. Als ich eintreffe, sind die Tische der Taverne auf dem kleinen Ortsplatz von einer großen Wandergruppe belegt.
Das Dorf in konsequent traditioneller Stein-Bauweise liegt in knapp 1200 Meter Höhe steil an einem Berghang. Autos können die schmalen Dorfpfade nicht befahren und müssen außen vor bleiben. Das grobe Natursteinpflaster stellt selbst für Trolleys ein unüberwindliches Hindernis dar. Da ich nur für eine Nacht hier bleibe, lasse ich das schwere Gepäck im Kofferraum und beziehe mein Quartier lediglich mit leichtem Handgepäck. Mein Zimmer im Hotel Stavraetos ist gemütlich, hat eine tolle Aussicht und ist sehr ruhig. Selbst bei offenem Fenster höre ich nichts als das Plätschern eines Brunnens, Vogelgezwitscher und ferne Viehglocken.
Es ist still. Es ist vollkommen still und einsam hier.
(Gerhart Hauptmann)
Zu Füßen des Ortes verläuft die Kalarítikos-Schlucht. Ein alter Eselspfad führt steil in die Schlucht hinab, auf der gegenüberliegenden Seite ebenso steil hinauf und weiter zum nächsten Dorf. Die Hänge sind von vielen Blüten bunt betupft und ich entdecke eine schöne Kieleidechse. Am Grund der Schlucht rauscht der wilde Chrousía-Bach, der von einer nicht sehr vertrauenswürdig aussehenden alten Brücke überspannt wird. Nach eine kleinen Pause am brausenden Wasser kehre ich auf demselben Weg zurück.
Das Abendessen nehme ich im Hotel ein. Da die Anzahl der Gäste sehr überschaubar ist, erwarte ich keine große Auswahlmöglichkeit, sondern lasse mir aufzählen, was verfügbar ist. Schließlich entscheide ich mich für eine weiße Bohnensuppe, auf die gegrillte Lammkoteletts mit Pommes folgen. Dazu lasse ich mir zwei Vergina-Bier schmecken. Mit der Rechnung über knapp 20 € wird mir eine Feige in Sirup serviert. Mein Abendspaziergang führt zur alten Brücke, die in früheren Zeiten den einzigen Weg ins Dorf hinein darstellte. Wenn man die Laternenbeleuchtung ignoriert, könnte man denken, dass hier die Zeit stehen geblieben ist.