Da ich nicht weiß, wie die Verpflegungssituation in den nächsten Stunden aussehen wird, beginne ich den Tag mit einem ausgedehnten Frühstück in derselben Café-Bar, in der ich den gestrigen Abend beendet hatte. Auf der Speisekarte war mir nämlich deren Angebot an ordentlichen Frühstücksmenüs zu fairen Preisen ins Auge gefallen. Kurz vor 9 Uhr wird es am Kai gegenüber richtig lebhaft. Es sammeln sich die Teilnehmer der zahlreichen "Sailing around Milos"-Tagesausflüge, die zu dieser Uhrzeit los tuckern, um möglichst viele der zahlreichen Strände rund um die Insel ansteuern zu können. Ob davon ein einziges Boot wirklich jemals gesegelt ist?
Mein erstes Ziel am heutigen Tag ist dagegen von einem gänzlich anderen Kaliber. Ich möchte Thiorichía, die alte Schwefelmine, besuchen, die an der einsamen Ostküste der Insel gelegen ist.
Die Schwefelmine auf Mílos wurde bis in die 1950er Jahre betrieben. Der Schwefel wurde hier nicht nur abgebaut, sondern vor Ort direkt aufbereitet, verpackt und verschifft. Nach der Stilllegung wurde nichts zurückgebaut, sondern die komplette Anlage, so wie sie war, dem Verfall überlassen, wodurch sie heutzutage zu einem beliebten "lost place" geworden ist. Der nahe Strand aus rotem Sand tut sein Übriges zur Beliebtheit dazu.
Der Weg führt über Zefíria in den abgelegenen Osten, wo außer den Lastwagen eines Kaolin-Tagebaus kaum noch Autos unterwegs sind. Ungefähr dort, wo die Asphaltstraße einer Schotterpiste weicht, endet auch der Empfangsbereich des Mobilfunknetzes, weshalb die Autovermieter in dieser kargen Gegend auch keine Mobilitätsgarantie mehr anbieten. Da ich ohnehin erneut etwas zu Fuß unterwegs sein möchte, lasse ich das Quad stehen und gehe los.
Die Landschaft erobert man mit den Schuhsohlen, nicht mit den Autoreifen.
(Georges Duhamel)
Nach ungefähr 20 Minuten bergab gelange ich an einen Tagebau, der zwar nicht aufgegeben aussieht, aber auch keinerlei Anzeichen von Aktivität aufweist. Ich zweifele inzwischen daran, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben, denn es sieht nicht so aus, als gelangte ich im weiteren Verlauf bis an die Küste. Während ich mich zu orientieren versuche, vernehme ich von hinten einen Schrei. Eindeutig menschlichen Ursprungs!
Die Szenerie ist mehr als skurril. Am Rand eines Plateaus steht ein weißhaariger, halbnackter Eremit, lediglich mit einer Unterhose bekleidet und mit einer Haut, die aussieht, als hätte sie seit 50 Jahren keinen Schatten mehr gesehen. Er winkt mir zu. Offensichtlich kommt er aus einer alten Baracke, zumindest ist es das einzige Gebäude hier, das so aussieht, als könne man darin leben. Davor steht ein mindestens ebenso alter PKW, aber immerhin mit zeitgemäßem Nummernschild.
Natürlich spricht der Alte kein Englisch. Immerhin reagiert er auf das Wort "Thiorichía" und ich verstehe sein "finito!". Aus seiner gleichzeitig lebhaften Gestik wird klar, dass ich hier falsch bin und irgendwie zurück und dann nach links gehen soll. Nun gut, warum beklage ich mich? Ich wollte doch wandern. Also zurück zum Quad, was weitere 20 Minuten bergauf bedeutet. Als ich es erreiche, erkenne ich, wenige Meter hinter einem Wegweiser geparkt zu haben, der die Abzweigung nach "Thiorichía" deutlich anzeigt.
Ich starte also einen zweiten Anlauf. Nach ungefähr 500 Metern kommt die nächste Gabelung. Aber ohne Mobilfunknetz keine Online-Karten und damit keine GPS-Navigation. Die Grenze der Technik ist erreicht. Wie sagte schon Gandalf in einer vergleichbaren Situation: In dem Fall immer der Nase nach. Ich höre auf mein Bauchgefühl und folge dem rechten Pfad.
Nicht alles, was Gold ist, funkelt,
nicht jeder, der wandert, verlorn.
(John Ronald R. Tolkien)
Weitere 500 Meter später entdecke ich am Wegesrand eine Gedenktafel an einen Partisanenhinterhalt im Zweiten Weltkrieg. Es bedeutet, ich bin auf dem richtigen Weg, denn ich erinnere mich daran, beim morgendlichen Kartenstudium diese Wegmarke gesehen zu haben. Die Piste führt allmählich bergab und schließlich in ein enges Tal, immer weiter dem Meer entgegen. Spätestens als ich auf einer Schotterhalde am Wegesrand leuchtend gelbe Schwefelstücke entdecke, besteht kein Zweifel mehr, die richtige Abzweigung genommen zu haben.
Falls es überhaupt möglich ist, wird die Landschaft von Meter zu Meter karger und ähnelt mehr und mehr einer Steinwüste. Trist ist sie trotzdem nicht. Die Felshänge leuchten in allen Farben von weiß über beige und ocker, rot, braun und sogar blau. Nicht umsonst wird Mílos "Insel der Farben" genannt, und das schon, lange bevor die Bootshäuser bunt lackiert wurden. Hoch über mir kreisen krächzend einige große Vögel. Sind das Lämmergeier? Ich rufe ihnen zu, sie sollen die Hoffnung aufgeben und abdrehen, ich hätte ausreichende Wasservorräte bei mir. Sie hören mich nicht.
Nach einer Kurve öffnet sich die Sicht. Vor dem azurblauen Meer liegt ein schmaler Strand und direkt davor die Überreste der Schwefelmine. Zu meiner Rechten ist die Felswand unterbrochen und gibt den Blick auf die benachbarte Küste frei, die steinig und wild ins Meer fällt. Der Weg führt in Serpentinen steil hinab und ich erreiche bald mein Ziel.
Mein Auge konnt im Tale wieder schweifen,
Gen Himmel blickt ich, er war hell und hehr.
(Johann W. von Goethe)
Es ist ein "Lost Place" der Spitzenklasse. Die Gebäude sind teilweise bereits verfallen, die Dächer fehlen komplett. Abgesehen davon sieht die Anlage so aus, als wäre sie eben erst verlassen worden. Alles steht oder liegt noch herum: Lastenaufzüge, Kessel, Loren. Beim Blick in die Gebäude gegenüber den Produktionsanlagen sieht es ähnlich aus. Bettgestelle mit Matratzen in den Unterkünften, Gerätschaften und Material in den Werkstätten. Die gesamte Mine ist von einem morbiden Charme erfüllt. Hier könnte man ohne jede weitere Vorbereitung Filme drehen.
Zwei Menschen haben es bereits vor mir an den Strand geschafft. Letzterer besteht aus grobem Sand, der bei Wind nicht unangenehm aufgeweht wird. Und mit ihm spart der Ort nicht, denn das enge Tal hat die Wirkung eines Windkanals. Sobald man sich in den Schatten der Felsen begibt, wird es richtig kühl. Dort führen einige alte Stollen in den Berg, an deren Wänden und der Decke gelber Schwefel leuchtet. Ich mache eine ausgedehnte Pause und genieße die besondere Ausstrahlung des Ortes und das einlullende Geräusch der leichten Brandung. Gegen Mittag erreichen mehr und mehr Besucher die Stätte. Als schließlich die ersten Ausflugsboote eintreffen, trete ich den Rückmarsch an, auf dem ich einige ansehliche Brocken Schwefel und lichtblauen Achat bzw. Chalzedon am Wegesrand finden kann.
Ich fahre zurück bis Zefíria, wo ich einen Stopp einlege, um mich vor dem nächsten Abenteuer ordentlich zu erfrischen. Der ehemalige Hauptort der Insel hat seine Bedeutung schon lange verloren und besteht heute nur aus wenigen bewohnten Häusern an einer Straßenkreuzung sowie einer überproportional großen Kirche. Immerhin hat das einzige Lokal geöffnet. Ich fühle mich um Jahre zurückversetzt, als ich den Innenraum betrete: Taverne, Kneipe, Bäckerei, Informationszentrale, Heimatmuseum und Tante-Emma-Laden in Kombination. Das letzte lebende Herz in einem sterbenden Ort, wehmütig und begeisternd zugleich.
Von Zefíria aus folge ich der asphaltierten Straße nach Süden. Schon rasch muss ich diese jedoch verlassen und mich auf Feldwegen durch ausgedörrte Äcker mühen. Alle paar Meter gibt es eine Gabelung oder Abzweigung, und ich bin froh, hier ein Netz zu haben und gezielt durch das Labyrinth von Sand- und Schotterpisten navigieren zu können. Auf dem letzten Kilometer freue ich mich über meine Entscheidung für ein Quad. Neben einem Jeep ist es das einzige Fahrzeug, mit dem man im tiefgründigen Sand eine Chance hat, voranzukommen. Schließlich lande ich auf einem von Felsen umgebenen Plateau, den Überresten des alten Fyripláka-Vulkankraters. Ein unscheinbarer Pfahl mit dem Logo des lokalen "miloterranean geo experience"-Projektes zeigt das Ende der Tour an.
Etwas höher in den Felsen befinden sich zwei wahre Höllenschlunde, die weithin sichtbar vor sich hin dampfen. Wer sie nicht sehen sollte, wird sie jedoch schon bald riechen. Der aus den Fumarolen entweichende Schwefelgeruch raubt einem beinahe den Atem. Das Annähern sollte mit dem Wind geschehen, um sich nicht zu vergiften. In der nahen Umgebung der Schlote hat sich Schwefel abgesetzt, der unmittelbar an den heißen Klüften zu wunderschönen dichten Nadelkissen kristallisiert. Paradox ist: Nur zwei Meter weiter blüht die Erika.
Die größte Sehenswürdigkeit, die es gibt, ist die Welt. Sieh sie dir an.
(Kurt Tucholsky)
Das Fotografieren der Kristalle wird zu einer Herausforderung. Der Boden ist heiß, der Dampf giftig und noch heißer. Das bedeutet Luft anhalten, zwei Schritte vor, schnell abdrücken und wieder zurück. Alles ist lebensfeindlich, aber extrem faszinierend und wesentlich beeindruckender als die recht zahmen Fumarolen am "Neuen Krater" in Santorín. Außerdem ist es hier deutlich einsamer. Lediglich ein einziges Paar mit einem Jeep hat es außer mir hierhin geschafft, aber sie sind rasch wieder fort. Ich fühle mich fast wie auf einem fremden Planeten und kann mich schwer überwinden, wieder aufzubrechen.
Da der Nachmittag noch nicht alt ist, entschließe ich mich auf dem Rückweg, eine Spritztour in den einsamen Westteil der Insel zu unternehmen. Aber die Karten lügen nicht: Hier gibt es nichts weiter zu entdecken, worauf ich bald die Lust verliere. Darüber hinaus ist zielloses Umherfahren heutzutage ökologisch eh nicht mehr vertretbar. Stattdessen fahre ich zum langen Achivadólimni-Strand. Der schöne, gut einen Kilometer lange Sandstrand muss außer mir nur zwei weitere Besucher verkraften. Für heute habe ich genug aufregende Aktivitäten gehabt. Ich suche mir ein schattiges Plätzchen und lausche lange gedankenversunken der Brandung.
Wenn unser Geist die Ruhe findet, verschwindet er von selbst.
(Meister Sengcan, ca. 600 n. Chr.)
Zurück in Adámas muss ich mich von meinem fahrbaren Untersatz trennen, der mir in den beiden letzten Tagen gute Dienste geleistet hat. Am Abend überkommt mich die Lust auf ein schlichtes Essen. In einer Imbissbude bestelle ich Souvlákia, Pommes und Tsatsíki. Den gelungenen Tag lasse ich in der gleichen Weise wie gestern ausklingen. Der Wind frischt kühl und böig auf - ein erstes Anzeichen des Herbstes?