Die Nacht war mild und am Morgen ist es bereits 20°C. Zu meiner Überraschung hat es stark getaut, sodass die auf dem Wäscherack hängenden Kleidungsstücke nass sind. Vermutlich ist es diese Feuchtigkeit, die es Pflanzen ermöglicht, trotz der herrschenden Dürre zu überleben. Zumindest erkläre ich mir so die üppige Verbreitung des Stechapfels auf einer benachbarten Brachfläche. Auf den Kykladen hat es schließlich im gesamten Jahr so gut wie gar nicht geregnet.
Ein Spaziergang am frühen Morgen ist ein Segen für den ganzen Tag.
(Henry David Thoreau)
Mein Weg führt mich zunächst nach Norden aus dem Dorf hinaus. Im Rückblick lässt sich gut der ursprüngliche Ortskern in erhöhter Lage erkennen. Natürlich liegt ein Kreuzfahrtschiff vor Anker. Diese Seuche verschont inzwischen kaum eine der größeren Kykladeninseln. Und Mílos ist touristisch aktuell auf dem stark aufsteigenden Ast.
Als erstes Ziel steuere ich auf den Nachbarort Trypití zu. Während die asphaltierte Straße weiter nördlich verläuft, wähle ich eine Schotterpiste, die über den Bergrücken führt. Diese Route hat zwei Vorteile: Zum einen ist es hier angenehm ruhig, zum anderen liegt der größte Anstieg direkt zu Beginn des Weges, sodass ich diesen bei niedrigem Sonnenstand bewältigen kann.
Vor mir queren einige Chukarhühner die Piste. Ich habe diese lustigen Gesellen seit vielen Jahren nicht gesehen. Sie können zwar grundsätzlich fliegen, tun dies aber nur im äußersten Notfall. Viel lieber rennen sie mit schnellen Trippelschritten durch das steinige Gelände und verschwinden rasch im Gestrüpp, sobald man ihnen zu nahe kommt. Ungewöhnlich ist der Schotter auf dem Weg. Er stammt offensichtlich aus lokaler Quelle, denn zahlreiche große und kleine Stücke von Obsidian liegen herum. Die messerscharfen und spitzen Bruchkanten wecken Zweifel, ob meine Idee, in den nächsten Tagen ein Fahrrad zu leihen, sinnvoll ist.
Mílos ist reich an Obsidian, einem natürlich vorkommenden vulkanischen Glas. Er war in der späten Stein- bis hinein in die Bronzezeit ein enorm begehrtes Material. Durch gezielte Spaltung ist es möglich, flache Bruchstücke mit sehr scharfen Kanten zu gewinnen, die über Jahrtausende die schärfsten Klingen und spitzesten Pfeile ermöglichten. Der Obsidian von Mílos war seit 7000 v. Chr. ein Exportschlager und wurde im gesamten östlichen Mittelmeerraum gehandelt.
Nach einer knappen Stunde nähere ich mich Trypití. Der Ort erwacht gerade erst. Ein Hahn kräht, Katzen schleichen träge durch stille Gassen. Die Hauptstraße hat die Breite einer Garageneinfahrt. Immerhin entdecke ich das Café-Restaurant OKTO, welches just in diesem Moment öffnet. Hier bekomme ich ein Frühstück, das mir Kraft für die nächsten Stunden geben wird: Shakshuka, pochierte Eier in einer würzigen Tomatensoße mit Kräutern und reichlich Myzíthra-Käse. In Kombination mit einem Kafé frappé und einer phantastischen Aussicht ist es der erste Höhepunkt des Tages.
Wenige Meter aufwärts steht die Hauptkirche Ágios Nikólaos, die etwas überdimensioniert wirkt. Dass der verschlafen wirkende Ort dennoch eine gewisse Bedeutung für die Insel hat, wird durch das nebenstehende Gebäude deutlich, welches sowohl eine Schule als auch die Bezirksverwaltung beheimatet.
Trypití und der Nachbarort Pláka sind heutzutage fast zusammengewachsen, gerade einmal 100 Meter freie Fläche liegen zwischen ihnen. Pláka ist der offizielle Hauptort der Insel. Ein riesiger Parkplatz vor dem Ortseingang lässt mich Massen von Besuchern befürchten und wenige Meter bergauf empfängt das Archäologische Museum von Mílos den Besucher. Zur Linken zieht sich der alte Ort steil den Hang hinauf.
Der ursprüngliche Dorfkern ist eines der touristischen Zentren auf Mílos. Um die Uhrzeit meines Eintreffens ist davon allerdings nicht viel zu spüren. Die meisten Tavernen sind noch geschlossen. Das Brot wurde zwar schon geliefert, hängt aber unberührt an den Türen. Umso ruhiger kann ich mich treiben lassen. Und "sich treiben lassen" ist das Beste, was man hier tun kann. Man verläuft sich ohnehin. Selbst eine GPS-Navigation hilft nicht immer weiter, denn die verwinkelten Gassen und Stufen sind auf keinem Plan wirklich vollständig und korrekt verzeichnet. Mal entpuppt sich der erhoffte Weg nur als ein zurückliegender Hauseingang, mal als Sackgasse, mal führt er tatsächlich zum Ziel.
Solange ich im Wesentlichen bergauf gehe, kann es nicht verkehrt sein, da mein Ziel das Kastro ist, jene venezianische Festungsruine, die ich schon bei der Anreise gestern von der Fähre aus am Gipfel des Berges erblickt hatte. Weiter oben ist der Weg zum Kastro ausgeschildert, und je höher ich steige, umso schöner werden die Durch- und Ausblicke. Die alle paar Schritt forthuschenden Eidechsen sind ein Indiz, dass vor mir an diesem Morgen noch nicht viele Leute hier gegangen sind. Die Stufen werden steiler, genauso wie der Stand der Sonne. Belohnt werde ich mit einer immer besseren Aussicht und letztendlich erreiche ich den Gipfel, der gleichzeitig der höchste Punkt im weiten Umland ist. Die herrliche 360-Grad-Rundumsicht ist der verdiente Lohn für den vergossenen Schweiß.
Es ist inzwischen 11 Uhr geworden und allmählich erreichen weitere Menschen den Gipfel. Die meisten machen nur ein paar Fotos und sind schnell wieder fort. Es herrscht dann vollkommene Stille und für mich ist es ein "place to be". Ich bleibe längere Zeit sitzen und genieße die Aussicht.
Als ich zurück im Ort bin, ist dieser kaum wiederzuerkennen. Die Gastronomie brummt und Horden von Menschen schwappen durch die Gassen. Die überwiegende Masse sind Teilnehmer von Gruppenführungen, was daran zu erkennen ist, dass die Audioempfangsboxen vor dem (zumeist umfangreichen) Bauch baumeln. Es geht auf die Mittagszeit zu, die Temperatur hat 25°C erreicht und vor der nächsten Etappe ist es an der Zeit für ein kleines Bier. Trotz der geringen Größe der Insel gibt es inzwischen eine lokale Brauerei. Ihr Produkt nennt sich Syrma - ein würziges Craftbier.
Durch das Gassenlabyrinth hilft nur die Orientierung nach der Sonne. Im Süden beginnt ein uralter Pfad, der den Hang hinab führt, schnurstracks auf das Gebiet zu, welches in römischer Zeit den Hauptort der Insel beherbergt hat. Demzufolge finden sich heutzutage hier die wichtigsten archäologischen Stätten. Zunächst stehe ich vor dem römischen Theater. Es wurde ursprünglich im 3. Jahrhundert v. Chr. erbaut, später zerstört und wieder neu errichtet, worauf es etwa 7.000 Zuschauer fasste. Handwerklich hochwertige steinerne Ornamente zeigen, dass die Insel zu der Zeit nicht unter Armut und Bedeutungslosigkeit litt.
Wann immer ich an die alten, antiken Kulturen denke, werde ich von Wehmut überwältigt.
(Milan Kundera)
Zu diesem Bild passt auch die "Venus von Milo", welche nur wenige Meter von hier gefunden wurde. Da sich das Original im Pariser Louvre befindet, hat man an dieser Stelle eine Kopie aufgestellt, die vor zwei Jahren von der französischen Firma Imerys S.A., dem größten Bergbaubetreiber auf Mílos, gestiftet wurde.
Die Aphrodite-Statue, die als "Venus von Milo" einer der großen Attraktionen des Pariser Louvre ist, entstand um 100 v. Chr. Da sie griechischen Ursprungs ist, wird sie hier im Land korrekt und konsequent "Aphrodite von Milos" bezeichnet. Der eigentliche Finder, ein ortsansässiger Bauer, war sich im Jahre 1820 der Bedeutung seines Fundes nicht bewusst und überließ ihn für ein Kleingeld einem französischen Offiziellen, der über verschlungene Wege davon erfahren hatte. Auf diese Weise gelangte die Statue 1821 in den Louvre, wo man sie bis heute besichtigen kann. Die seit Jahrzehnten währenden Bemühungen der griechischen Regierung, die Skulptur in ihre Heimat zurückzuholen, sind bislang ohne Erfolg.
Von größerer archäologischer Bedeutung als Theater und Statue sind die Katakomben, die sich ebenfalls in der unmittelbaren Umgebung befinden. Sie sind die älteste gesichert christliche Begräbnisstätte der Welt und wurden vom 1. bis zum 5. Jahrhundert n. Chr. angelegt. Die gesamte Anlage umfasst ungefähr 300 Grabnischen, welche sich auf mehrere unterirdische Kammern verteilen. Obwohl davon nur ein kleiner Teil im Rahmen einer kurzen Führung besichtigt werden kann, lohnt sich der Besuch.
Zum letzten Ziel des heutigen Tages zu gelangen, scheint einfach, denn ich muss "nur bergab" gehen. Ein Pfad beginnt direkt an den Katakomben. Ich komme zunächst an einer Felsenkapelle vorbei, danach ist der Verlauf nicht überall klar erkennbar. An einer Stelle komme ich ab und stehe später an einem Geröllhang, über den ein weiterer Abstieg unverantwortlich wäre. Ich erkenne meinen Irrtum, gehe zurück und finde schließlich die richtige Abzweigung, die mich ohne Umweg an die Küste führt.
Auf diese Weise gelange ich nach Klíma. Der winzige Weiler ist einer der meistfotografierten Orte der Insel. Der Grund sind die Sýrmata, für Mílos typische Fischerhäuser, die auf Meeresniveau direkt am Wasser errichtet sind. Das Erdgeschoss diente als Bootsgarage, während sich darüber ein Wohnraum befand. Die Tore wurden schon früher oft passend zum Boot farbig gestrichen, um sie leichter zuordnen zu können. Mit zunehmendem Tourismus wurden sie hier in Klíma besonders bunt lackiert und renoviert, viele können als Ferienunterkünfte gemietet werden. Einige werden jedoch weiterhin im ursprünglichen Sinne genutzt. Von einem weit ins Wasser reichenden Steg habe ich einen schönen Überblick auf das gesamte Uferpanorama.
Vom Meer weht eine herrlich erfrischende Brise, die mir nach dem schweißtreibenden Abstieg besonders gelegen kommt, und ich nehme eine kühle Erfrischung zu mir. Schließlich steht der Heimweg noch bevor. Dazu muss ich zunächst den Hang wieder steil hinauf nach Trypití. Von dort geht es kontinuierlich abwärts bis Adámas, wo ich gegen 17 Uhr am Hotel eintreffe.
Am Abend suche ich ein Grillrestaurant auf und versuche mich an "Chicken-Bacon-Souvláki', die mit Pommes und etwas gemischtem Salat gereicht werden. Heute gibt es dazu ein Vérgina-Bier. Das Lokal hat einen schlichten Charme, doch die Spieße sind unerwartet lecker und ich habe zum ersten Mal das Gefühl, dass die Insellage bei der Preisgestaltung nicht ausgenutzt wird. Da ich keine Vorspeise gewählt hatte, genehmige ich mir anschließend ein großes Eis. Damit setze ich mich an den kleinen Dorfplatz, auf dem sich die Kinder des Ortes austoben. Schließlich lasse ich den Tag auf der Hotelterrasse wie gestern enden.