Zagória / Épirus 01.09.2022

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Nachdem ich meinen Koffer reisefertig gepackt und im Auto verstaut habe, besuche ich zum Frühstück ein kleines Straßencafé. Ich bin nicht der einzige, der Appetit hat, geht es mir beim Anblick der Katze durch den Kopf, die brav und geduldig vor der Auslage eines Fischgeschäfts wartet. Eine der vielen Kirchen erfüllt die Innenstadt mit ohrenbetäubend lautem Glockenklang. Ist es die neue, große? Oder die versteckte, alte? Oder vielleicht doch die ganz kleine? Ich gebe mir nicht die Mühe, das zu klären, genieße meinen Kaffee und mache mich auf den Weg. Vor dem Ende der Reise habe ich eine letzte Wanderung eingeplant.

Als ich 2003 zum ersten Mal von Véria nach Westen unterwegs war, fuhr ich auf der Landstraße, da die Autobahn erst in Bau war. Damals erblickte ich zu meiner Linken ein tief eingeschnittenes, bewaldetes Tal, an dessen Grund ein langer See zu erkennen war. Dieser Anblick ist immer in meinem Kopf geblieben und heute möchte ich in diesem Tal wandern und dabei ein hoch gelegenes Kloster besuchen.

Der Sinn des Reisens ist es, an ein Ziel zu kommen, der Sinn des Wanderns, unterwegs zu sein.
(Theodor Heuss)

Der Aliákmonas, Griechenlands längster Fluss, wird in Makedonien zu drei großen Seen gestaut, welche für die Strom- und noch mehr für die Trinkwasserversorgung große Bedeutung haben. Der erste und größte ist der Polýfytos-See südlich von Kozáni, es folgt der kleinere Sfikiá-See und zuletzt der schmale, aber 15 Kilometer lange Aliákmonas-Stausee südlich von Véria.

Ich überquere den aufgestauten Aliákmonas und biege unmittelbar hinter der Brücke nach rechts ab, wo eine Straße dem Verlauf des Tals folgt. Es soll irgendwo einen Fußweg zum Kloster "Tímiou Pródromou" geben, welches auf der Südseite des Sees am Hang gelegen ist. Über den genauen Startpunkt des Weges sind sich die verschiedenen Quellen nicht einig, da werde ich etwas suchen müssen. Die Wasserversorgung macht mir zumindest keine Gedanken, allenthalben finden sich Trinkbrunnen am Wegesrand.

In der Nähe des wahrscheinlichsten Startpunkts finde ich einen geeigneten Parkplatz, auf dem bereits ein Wagen mit drei jungen Leuten steht. Ob sie von einem Fußweg hoch zum Kloster wüssten, frage ich auf Englisch. So etwas scheint unbekannt zu sein, doch ein Mädchen ist immerhin interessiert, was ich vorhabe. Nach kurzer Unterhaltung traut sie sich an weitere Fragen, die ihr wohl auf dem Herzen liegen. Ob ich Athén oder Thessaloníki interessanter finde, möchte sie zunächst wissen. Mit meiner Antwort "Thessaloníki" habe ich offensichtlich ihre Sympathie geweckt. Was ich denn als Tourist ausgerechnet in Véria mache, ist die nächste Frage. Es deckt sich mit meiner gestern gemachten Erfahrung, vermutlich der einzige ausländische Reisende in der Stadt gewesen zu sein. Die Unterhaltung ist nett, bringt mich aber hinsichtlich meines Vorhabens nicht weiter.

Ich gehe also auf gut Glück eine Zeitlang die Straße entlang nach Süden, sorgfältig auf jeden kleinsten Hinweis auf einen Fußpfad achtend. Es bleibt erfolglos. Ich gehe zurück und versuche es in der entgegengesetzten Richtung. Lange muss ich nicht gehen. Schon nach wenigen Schritten entdecke ich im Buschwerk am Straßenrand ein morsches Schild, auf dem sich mit etwas Phantasie noch Worte wie "Kloster" und "Fuß" interpretieren lassen. Los geht’s!

Der Pfad führt steil den Hang hinauf und ist offensichtlich in Vergessenheit geraten. Vermoderte Stufen und verwitterte Markierungen beweisen zwar einwandfrei seinen menschengemachten Ursprung, er scheint jedoch schon längere Zeit nicht mehr benutzt zu werden und sein Verlauf ist nicht mehr immer zweifelsfrei erkennbar. Manchmal muss ich ein Stück zurück und einen neuen Versuch starten. Auf halber Höhe teilt sich der mögliche Weg vor einer Felsenklippe. Auf der einen Seite wäre nur mit Kletterausrüstung und Sicherung ein Weitergehen zu verantworten, auf der anderen Seite verliert sich der Pfad nach kurzer Zeit im Unterholz. Ich muss aufgeben und kehre zum Auto zurück.

Wanderer, es gibt keinen Weg, der Weg entsteht im Gehen.
(Antonio Machado)

Ich finde weiter nördlich schließlich eine brauchbare Alternative. Es ist eine alte Betonpiste, die vermutlich früher der offizielle Fahrweg zum Kloster war, bevor die jetzige Straße gebaut wurde, welche dreimal so lang, aber deutlich besser befahrbar ist. Die Piste ist steil, doch gut zu gehen und führt weiter oben auf die neue Straße. Die Aussicht über das enge, bewaldete Tal ist wunderschön. Am gegenüberliegenden Hang ist ein weiteres Kloster zu erkennen, welches den Namen "Kloster der Jungfrau Maria von Kallípetra" trägt. Die Straße führt weiter den Berg hinauf und bietet mit zunehmender Höhe immer bessere Aussicht über das Tal. Anderthalb Stunden nach dem ersten Versuch erreiche ich schließlich mein Ziel.

Das Kloster "Tímiou Pródromou" liegt etwas versteckt im Wald. Es ist in ausgezeichnetem Zustand. Die Renovierung der alten Gebäude scheint kurz vor der Fertigstellung zu stehen, es ist bewohnt, bewirtschaftet und für Besucher offen. Ich bin positiv überrascht, denn offen ist hier wirklich wörtlich zu nehmen, kaum etwas ist abgesperrt, sogar die Werkräume und alte Stallungen sind zu besichtigen. In einer Felsengrotte ist eine biblische Szene mit Sperrholzfiguren nachgestellt; das kann man mögen, muss man aber nicht. Als Glockenturm dient eine hölzerne Plattform über dem zentralen Brunnen, an welchem ich mich ausgiebig erfrische. Die Kirche ist von innen bereits vollständig renoviert und hinter ihr werden gerade die Weintrauben des überwachsenen Hofes geerntet. Ein kurzes Kopfnicken gibt die Erlaubnis, mir etwas für den Eigenbedarf zu pflücken. Der Panoramablick von der Klosterterrasse rundet das positive Gesamtbild ab.

Hinter dem eigentlichen Kloster führt ein ausgewiesener Weg zu einer Grotte, in der vermutlich der erste Einsiedler den Ursprung dieser Stätte gelegt hat. Wassersorgen musste er sich nicht machen: Wenige Meter von hier stürzt sich ein Bach lautstark in mehreren Stufen den Berghang hinunter. Der Wasserfall ist mitten im dichten Wald gelegen, ein wundervoller Ort.

Es beschleicht mich eine Bezauberung.
(Gerhart Hauptmann)

Schließlich mache ich mich auf den Rückmarsch zum Auto und bringe die letzten, langweiligen 80 Kilometer bis Thessaloníki hinter mich. Die in vollem Umfang laufenden Arbeiten zum Bau der Metro führen nicht zu einer Erleichterung der innerstädtischen Verkehrssituation. Ich quäle mich durch den Stau zu meinem bevorzugten Parkplatz an der Dimitríos-Kirche. Ein paar Stunden bis zum Abflug verbleiben mir und ich habe Hunger.

Einen Platz zum Essen zu finden ist in Thessaloníki so leicht wie in kaum einer anderen Stadt. Ich habe heute im Sinn, eine der volksnahen Tavernen im Marktviertel aufzusuchen. Im "To Díchti" genieße ich das letzte Essen dieses Urlaubs: ein Sepia-Stifádo, dazu Bratkartoffeln mit Rosmarin und einem Knoblauch-Joghurt-Dip. Das Stifádo sieht zwar nicht so aus, als dass man es auf Facebook posten möchte, ist aber geschmacklich eine Offenbarung. Ein Kaiser-Pilsener gibt dem außergewöhnlichen Mahl den letzten Pfiff.

Natürlich kann ich nicht weitergehen, ohne kurz über den Markt zu schlendern, auch wenn jetzt am Nachmittag vieles bereits im Endverkauf ist. Anderthalb Meter Bauernbratwurst passen zusammengerollt noch gut ins Handgepäck. Für einen wirklich ausgedehnten Stadtbummel ist es mir zu heiß, weshalb ich die Starbucks-Filiale auf dem Aristotéles-Platz ansteuere. Ich bin zwar kein Fan dieser Kette, die dortige Lokation hat jedoch den gewaltigen Vorteil, dass sich ihr Außenbereich an einer schattigen und gleichzeitig windigen Ecke befindet. Nebenbei kann man hier beliebig lange sitzen, ohne dass nach weiteren Bestellungen gefragt wird.

Im Süden gewöhnt man sich die Hektik ab, nimmt sich die Zeit, vergeudet sie. So wie die alten südländischen Männer, die einfach so dasitzen, auf Stühlen, ein halbvolles Glas vor sich.
(Konstantin Arnold)

Die Hitze und der Blick aufs Meer machen mich träge, ein gemütlicher Spaziergang entlang der Promenade und anschließend quer durch die inzwischen etwas schattigeren Straßen weckt meine Lebensgeister auf. In der "Blues Bar" an der römischen Agorá trinke ich einen letzten Orangensaft, dann ist der Urlaub zu Ende. Die Fahrt zum Flughafen und das dortige Finale verlaufen so routiniert, dass sie keiner weiteren Erwähnung wert sind.

Aber was ist ein Leben, wenn man es nicht lebt?
Und was zählen die Jahre, wenn man sie nur zählt?
(Charlotte Rezbach)

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