Heute werde ich den Épirus verlassen, aber bevor es soweit ist, möchte ich einen Abstecher zum Nekromanteΐon, einer bekannten und nach wie vor nicht restlos verstandenen archäologischen Stätte unternehmen.
Das Wetter lässt jede Erinnerung an die Wolken des Vorabends vergessen. Nach dem bewährten Frühstück im Café packe ich meine Sachen, werde zum Abschied von Voúla mit selbst produziertem Gebäck versorgt und fahre gen Süden. Am Kalodíki-See lege ich einen Zwischenstopp ein. Das in früheren Zeiten berüchtigte Malaria-Gewässer ist inzwischen ein wichtiges Biotop und Vogelschutzgebiet. Heute hat sich eine große Anzahl von Silberreihern eingefunden.
Ich durchquere das Achéron-Delta und erreiche schließlich das auf einem Hügel gelegene Dorf Mesopótamos. Hier befindet sich das Nekromanteΐon, ein antikes Totenorakel.
Die Toten wurden von den alten Griechen als Schatten betrachtet, die von ihrem verderblichen Körper befreit und in der Lage waren, die Zukunft vorherzusagen. Gleichzeitig zeichneten sie sich durch Gewissenlosigkeit und Rachsucht gegenüber den Lebenden aus, sodass der Kontakt mit ihnen für die Lebenden nicht ungefährlich war. In der Antike wurde vielfach geglaubt, an bestimmten heiligen Stätten mit der Seele eines geliebten Menschen kommunizieren zu können, um Informationen über die Zukunft zu erfragen.
Das Nekromanteΐon befindet sich oberhalb des Dorfes auf dem Gipfel des Hügels, welcher in den Duft von Aleppo-Kiefern gehüllt ist. Das nur 21×21 Meter kleine Gelände ist in seiner Gesamtheit von einer Zyklopenmauer eingefasst. Die Kunst, die riesigen, beliebig unregelmäßig polygonalen Steine lückenlos aufeinander zu platzieren, hat mich seit jeher fasziniert. Die heute dominierenden Bauwerke, eine byzantinische Kirche sowie ein Wachhaus aus osmanischer Zeit interessieren mich nur am Rande.
Das eigentliche Heiligtum befindet sich auf der Rückseite. Man betritt es über einen mäandrierenden Eingang (der ursprünglich mit zwei schweren Bronzetüren verschlossen war) und gelangt dann in die Haupthalle. In Seitenräumen wurden große Vorratsgefäße entdeckt, die noch Lebensmittel, vor allem Getreide, enthielten. Ob das eigentliche Orakel in der ebenerdigen Halle durchgeführt wurde, oder ob dazu die darunter befindliche, exakt gleich große Gewölbehalle diente, ist wissenschaftlich nicht eindeutig geklärt.
Sicher überliefert ist, dass die Ratsuchenden (bzw. Kunden) vor der eigentlichen Zeremonie zwei Wochen mit Fasten und Meditation verbringen mussten. Es gibt Hypothesen, dass auch die Einnahme halluzinogener Pflanzen zum Ritual gehörte, evtl. um die Befragung der Toten mittels gruselig-mythischer Schaueffekte besonders eindrucksvoll und glaubhaft zu gestalten.
Auch wenn die Geheimnisse des Nekromanteΐons nicht abschließend erforscht sind, so bleibt es doch ein faszinierender Ort. Der Rundgang ist mit Infotafeln vorbildlich aufbereitet und der Abstieg über eine sehr steile Treppe in das finstere und nasse Kellergewölbe hilft schon sehr bei der Vorstellung, dass ohne elektrische Beleuchtung hier durchaus gruselige Situationen glaubhaft vermittelt werden konnten.
Nach der Besichtigung mache ich einen Spaziergang zum nahegelegenen antiken Éphyra. Das Ausgrabungsgelände wirkt allerdings verlassen und ist abgesperrt. Der kleine Abstecher lohnt sich dennoch, zum einen wegen zahlreicher blühender Meerzwiebeln und zum zweiten wegen pittoresker alter Schätze, auch wenn sie nicht antiken Ursprungs sind.
Das Ende des Urlaubs nähert sich und nun beginnt tatsächlich die Rückreise. Als ich jedoch auf der Fernstraße den Wegweiser zum Abzweig nach Párga erblicke, beginne ich zu zweifeln, ob ich es mir je verzeihen könnte, nicht einen Abschiedskaffee auf der dortigen alten Festung getrunken zu haben. Es sind ja nur ein paar Kilometer bis dorthin.
Es war etwas, das mich loslöste – eine Idee, die nicht in meinem Kopf, sondern direkt im Nervensystem
entstand.
(Lawrence Durrell)
Párga, der schönste Ort Griechenlands! Ich erspare dem Leser an dieser Stelle weitere Schwärmereien und verweise stattdessen auf meinen Reisebericht vom letzten Jahr, in dem ich meine Meinung über Párga mehr als ausgiebig formuliert habe. Der Ort ist so überfüllt wie immer. Ich spaziere die Promenade entlang, steige zur Burg hinauf und bin entsetzt: Das Café ist geschlossen. Ich vermute, zu wenige Gäste haben sich den steilen Aufstieg auf die alte Festung zugemutet oder die baufällige Ruine hat Sicherheitsbedenken geschürt. "Что делать?" (dt. "Was tun?"), fällt mir in dieser Situation der berühmte Roman von Nikolai Tschernyschewski ein.
Denke daran, dass etwas, was du nicht bekommst, manchmal eine wunderbare Fügung des Schicksals sein
kann.
(Dalai Lama)
Die wunderschöne Aussicht kann ich auch ohne Kaffee genießen und beim Spaziergang einmal rund um die Festung mich an die schönen Tage am Váltos-Strand vor genau einem Jahr erinnern. Immerhin gibt es direkt vor dem Burgeingang die schicke Café-Bar "Kastro 1380", die ich nun aufsuche, um wenigstens hier einen Frappé zu trinken. Die Aussicht von der Terrasse ist genauso schön wie von der Festung, es fehlt nur der Pinienduft. Ich spaziere zum Auto zurück. Jetzt beginnt die Rückreise aber wirklich!
Bis zur Autobahn benötige ich 30 Minuten. Weitere drei Stunden und exakt 56 Tunnel später stehe ich im zentralmakedonischen Véria vor der Türe des "Le Bijou", meiner letzten Unterkunft. Das unscheinbare Gebäude ist mit modernster Technik ausgestattet. Den Zahlencode für die Außentür habe ich per Messaging-App übermittelt bekommen, ebenso die Kombination für den persönlichen Schlüsselsafe im Hausflur. Auch alle weitere Kommunikation, Begrüßung, Stadtplan, Tipps zu Restaurants und Sehenswürdigkeiten erhalte ich auf dieselbe kontaktlose Art. Schöne neue Welt...
Es gibt keinen Grund zu klagen: Das Zimmer ist geräumig, ebenso das moderne Bad. Die Lage des Hauses ist ausgezeichnet: Einerseits mitten in der City, andererseits in einer kleinen, ruhigen Seitengasse, die bereits zur Fußgängerzone gehört. Angesichts der schwülen 30°C registriere ich mit Erleichterung die intelligente Montage der Klimaanlage insofern, als die kalte Luft nicht direkt auf das Bett fällt. Ich mache mich kurz frisch und habe vor dem Abendessen genug Zeit für einen Stadtrundgang.
Auf den ersten Blick würde man Véria nicht für eine alte Stadt halten. Mit den großen Wohnblocks, die sich in der Peripherie die Berge hochziehen, den breiten Einfallstraßen und der modernen Innenstadt mit großer Fußgängerzone wirkt sie alles andere als antik. Auch die Überbleibsel der osmanischen Altstadt zählen sicherlich nicht mehr als 200 Jahre. Lediglich die vielen alten Kirchen geben einen Hinweis darauf, dass Véria auf eine sehr lange Geschichte zurückblickt. Schon der Apostel Paulus hat hier gepredigt, und das sogar mit einem Erfolg, der zu Neid und Unruhe führte.
Als aber die Juden von Thessaloníki erfuhren, dass auch in Véria das Wort Gottes von Paulus verkündigt
wurde, kamen sie und erregten Unruhe und verwirrten auch dort das Volk.
(Apostelgeschichte, 17, 13)
Gefühlt gibt es in Véria mindestens genauso viele Kirchen pro Einwohner wie in Thessaloníki. Alleine auf den 400 Metern vom Parkplatz meines Wagens bis zum Hotel bin ich an vieren vorbeigekommen und habe eine fünfte gesehen. Entlang der gleichen Strecke allerdings auch sechs Cafés, das beweist die Prioritäten und löst das morgige Frühstücksproblem. Auf dem weiteren Rundgang entdecke ich die "Alte Metropolitenkirche", eine byzantinische Basilika aus dem 11. Jahrhundert, die zu osmanischer Zeit als Moschee genutzt und mit einem Minarett ausgestattet wurde. Was von den ursprünglichen christlichen Fresken erhalten geblieben ist, wurde inzwischen restauriert.
Im Randbereich der City gibt es viel Leerstand, die Finanzkrise hat Städten wie Véria, die weder aus Landwirtschaft noch aus Tourismus nennenswerte Einnahmen erzielen, am schwersten zugesetzt. Daneben gibt es manche nette Ecke und Plätze, die fast ein wenig dörfliche Gemütlichkeit ausstrahlen. Eigentlich gibt es in der Stadt alles, nur keine Touristen.
Am Abend muss ich nicht weit gehen, direkt um die nächste Straßenecke reihen sich Tavernen, Bars und Imbissbuden aneinander. Meine Vermutung über die Bedeutung des Tourismus in der Stadt bekommt neue Nahrung: Die Speisekarten sind nur in der Landessprache, das sieht man in Griechenland selten. Ich bestelle Dolmadakía (gefüllte Weinblätter) zur Vorspeise und danach Souvlákia, die man hier gemäß guter alter Art nach Anzahl bestellen kann. Ich nehme vier Spieße und frage, ob Pommes dazu serviert werden. Nicht unbedingt, verstehe ich die Antwort, aber das ließe sich machen. Es lässt sich tatsächlich machen und diese Beilage taucht später nicht einmal auf der Rechnung auf.
Da ich an einer belebten Kreuzung in der Fußgängerzone sitze und das Leben auf der Straße so schön betrachten kann, lasse ich dem Mýthos-Bier ein zweites folgen und bleibe auch für einen abschließenden Tsípouro sitzen. "Entschuldigung, ich wollte keinen Oúzo!", will ich gerade rufen, doch fällt mir rechtzeitig ein, dass ich mich ja wieder in Makedonien befinde, wo Tsípouro - anders als im Épirus - üblicherweise mit Anis aromatisiert wird. Mit einem langsamen Verdauungsspaziergang durch die immer noch sehr warmen Straßen beschließe ich den Tag.