Der Tag beginnt wolkenlos. Das erfreut mich genauso wie die Vögel, die lustvoll über der Landschaft kreisen. Während ich meinen Proviant fertig mache, leistet mir darüber hinaus ein zutraulicher Grauschnäpper vor meinem Fenster Gesellschaft. Da Muskeln und Gelenke den gestrigen Ab- und Aufstieg in die Víkos-Schlucht ohne Konsequenzen hingenommen haben, traue ich mich heute an eine weitere Herausforderung heran: die legendären "Stufen von Vradéto".
Die "Skála Vradétou" (dt. "Stufen von Vradéto") bezeichnet den Aufstieg vom Grund der Mezariá-Schlucht
nach Vradéto, dem am höchsten gelegenen Dorf der Zagória auf knapp 1400 Meter. Der überwiegende Teil der Felsstufen
ist nach Südwesten ausgerichtet, damit die Treppe während der schneereichen Wintermonate begehbar blieb.
Bis in das Jahr 1974 war die Treppe die einzige Verbindung des Dorfes mit der Außenwelt, bevor die heutige, zehn
Kilometer lange, serpentinenreiche Straße fertiggestellt wurde, die um die Mezariá-Schlucht herumführt und das Dorf
seitdem per Auto zugänglich macht.
Vor elf Jahren habe ich die Treppe bereits gesehen, mich damals jedoch für die Anfahrt über die Straße nach Vradéto entschieden. Heute will ich die Stufen bezwingen und anschließend von Vradéto aus zum Belói-Aussichtspunkt weiterwandern. Letzterer liegt dem gestern besuchten "Víkos Viewpoint" genau gegenüber und gilt wegen seiner hohen Position als schönster Aussichtspunkt in die Víkos-Schlucht.
Ich fahre zunächst bis Kapésovo und parke den Wagen am Ortsausgang. Zu meiner Linken fällt das Gelände steil in die Mezariá-Schlucht ab. Es handelt sich dabei um dieselbe, die bei Monodéndri gegenüber des Paraskeví-Klosters in die Víkos-Schlucht mündet. Ein gewöhnliches Verkehrsschild ist der einzige Hinweis auf die Treppe. Kein Warnhinweis, keine Auszeichnung als Wanderweg, keine touristische Information ist zu entdecken. Um 9:20 Uhr setze ich den ersten Schritt.
Ein kleiner Gang, der ins Gebirge hinaufführt; und dann eine Treppe, eine schmale Treppe, o ja, sehr
lang und schmal. Und dann noch mehr Stufen. Und dann...
(John Ronald R. Tolkien)
Die Treppe liegt am Felshang gegenüber und ist gut zu erkennen, sodass niemand im Nachhinein behaupten kann, er hätte nicht gewusst, was ihn erwartet. Auf dieser Seite verläuft der Weg zunächst auf der Nordflanke in die Schlucht hinab. Hier ist es schattig, beinahe kühl und nach den Regenfällen der vergangenen Tage sehr feucht. Pilze schießen an zahlreichen Stellen aus der Erde. An der Basis überquert man die hier fließenden Bäche über zwei schlichte Steinbrücken, die als erste und zweite Kapesovítiko-Brücke bezeichnet werden.
Unmittelbar hinter der zweiten Brücke beginnt der Weg anzusteigen und geht bald in Treppenstufen über. Ihre Anzahl wird meistens mit 1100 bis 1200 angegeben, aber das besagt nicht viel. Die künstlich errichteten kann man zählen, doch gibt es zusätzlich natürliche Felsstufen und an nicht so steilen Passagen schräge, schotterige Abschnitte. Aufgrund der Ausrichtung der Treppe verläuft der Weg morgens zum überwiegenden Teil im Schatten der Felswand. An den anderen Stellen habe ich die Sonne immerhin im Rücken, was den Aufstieg bei aller Anstrengung durchaus erträglich macht. Er scheint allerdings niemals enden zu wollen.
Es kommt noch eine Treppe. Eine viel längere Treppe. [...] Aber nicht so schwierig. Sie sind die Gerade
Treppe hinaufgeklettert. Jetzt kommt die Gewundene Treppe.
(John Ronald R. Tolkien)
Je höher man steigt, desto schöner ist die Aussicht über die Schlucht in Richtung Kapésovo. Hier sind die mit Bäumen getupften, hellgrauen Flyschsandsteinfelsen besonders ansehnlich. Irgendwann werden die Stufen seltener, der Verlauf des Weges wird flacher und man erreicht die Kapelle des Ágios Athanásios, welche das Ende der Treppe markiert. Ich vermute, sie wurde hier errichtet, um einen Segen vor dem Abstieg zu erbitten bzw. ein Dankesopfer nach dem Aufstieg zu erbringen. Ja, danke - ich lebe noch!
Vradéto ist ein kleines Nest, ähnlich wie Víkos. In der Nachbarschaft der angesichts der Einwohnerzahl überdimensioniert wirkenden Kirche gibt es immerhin zwei Tavernen. In einer der beiden frage ich den alten Besitzer nach dem Weg zum Aussichtspunkt und stelle in Aussicht, auf dem Rückweg für einen Kaffee hier einzukehren. Er weist mir die Richtung, aber verlaufen kann man sich in den wenigen Straßen des Dorfes ohnehin kaum.
Am Ortsrand sehe ich einen Imker bei der Arbeit. Seine Bienenstöcke sind von einem modernen Stromzaun umgeben, als Schutz gegen Bären, wie ich vermute. Ich würde meine Theorie gerne bestätigen lassen, aber der Mann ist leider nur des Griechischen mächtig und so fällt die Kommunikation schwer. Wäre mir doch bloß das Wort für Bär (griech. arkoúda) eingefallen...
Zum Aussichtspunkt führt der Fußweg über eine Hochebene. Als ich im Frühjahr 2011 hier spaziert bin, war die gesamte Fläche eine einzige Blumenwiese. Ende August habe ich eine ausgedörrte Steppenlandschaft erwartet, dennoch sehe ich auch heute einige schöne Pflanzen, natürlich nicht in der Üppigkeit des Frühlings. Die auf kargen, steinigen Böden gedeihende Königskerze hat mich seit jeher fasziniert. Später entdecke ich sogar eine Skabiose, eine seltene endemische Art. Am auffälligsten ist zu dieser Jahreszeit die Amethyst-Mannstreu. Die leuchtend hellviolette Edeldistel bedeckt weite Flächen des Plateaus.
Wir zerstören Millionen Blüten, um Schlösser zu errichten, dabei ist eine einzige Distelblüte wertvoller
als tausend Schlösser.
(Leo N. Tolstoi)
Am Wegesrand gedeihen einige Bäume mit Kirschpflaumen. Die Früchte der Wildform sind zwar grundsätzlich ess-, allerdings nicht genießbar. Sie sehen lecker aus, sind jedoch dermaßen adstringierend, dass man sie sofort wieder ausspeit.
Entlang des sporadisch gekennzeichneten Pfades sind immer wieder Informationstafeln aufgestellt, auf denen die Pflanzen der Region vorgestellt werden. Mir gefällt das sehr, nicht nur, weil es den Blick für die Umwelt schärft, sondern mir darüber hinaus die Bestimmung der Spezies erleichtert. Neben den Pflanzen fällt mir eine ungeheure Anzahl von Schmetterlingen der verschiedensten Arten auf. Besonders stark vertreten sind Bläulinge, die mich wie eine Wolke umflattern.
Über soviel Naturbeobachtung habe ich mein eigentliches Ziel zu keinem Zeitpunkt vergessen. Nach einer halben Stunde reiner Gehzeit ändert sich die steppenartige Landschaft, sie wird steiniger und baumreicher. Hier lässt sich schon ein erster Blick zur Víkos-Schlucht werfen. Das Gelände steigt weiter an, dann passiert man einen Durchgang und muss am Ende des Weges etwas klettern, bevor sich hinter weiteren Felsen der als Balkon ausgebaute Aussichtspunkt eröffnet. Der Blick ist spektakulär, ein grandioser Ort!
Wenn niemand spricht, hört man das Summen der Bienen. Schmetterlinge torkeln über den Blumen und
Gräsern des Hanges. Ganz unten der Fluß. Ganz hinten eine Ferne. Blau.
(Klaus Modick)
Als ich eintreffe, bin ich zunächst alleine, aber nur kurz. Ein israelisches Pärchen fragt mich, nachdem sie ihre Sprachlosigkeit infolge des Ausblicks überwunden haben, ob es für mich auch der erste Besuch hier sei. Als ich verneine, sind sie sehr interessiert, weitere Tipps zu lohnenswerten Zielen in der Umgebung zu bekommen. Nachdem sie wieder gegangen sind, mache ich es mir auf den Felsen bequem und genieße die großartige Aussicht und meinen mitgeführten Proviant. In unregelmäßigen Abständen kommen Paare oder kleine Gruppen an, die allesamt nicht lange verweilen. Lediglich mit einer größeren Gruppe Franzosen ist dabei keine Kommunikation möglich, da sie kein Englisch sprechen können oder wollen.
Ich verweile weit über eine Stunde hier. Mit fortschreitender Zeit bleibe ich von anderen Besuchern verschont und kann den überwältigenden Ausblick ungestört genießen. Der unmittelbar rechts des Balkons sich auftuende Abgrund hat zwar keinen Namen, aber ich taufe ihn Dante-Graben, da ich seinen Anblick unwillkürlich mit einem Abstieg in die Hölle assoziiere. Schließlich freunde ich mich mit einer untypisch zutraulichen Mauereidechse an, die mir Modell steht. Ungeachtet dessen bin ich überzeugt, dass sie mich nach meinem Abschied nicht vermissen wird.
Auf dem Rückweg kommen mir mehrere Personen entgegen, aber man hat zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, der Aussichtspunkt wäre überlaufen. In Vradéto kehre ich wie angekündigt in die Taverne neben der Kirche ein und freue mich auf einen Kafé frappé. Dann steht der Rückweg über die Treppe an. Von der Athanásios-Kapelle kann ich bereits meinen Wagen am gegenüberliegenden Straßenrand sehen. In direkter Luftlinie gemessen sind es tatsächlich nur 700 Meter, für die ich jetzt allerdings im besten Falle eine gute Stunde benötigen werde.
Es gab keinen Abstieg außer über eine schmale Treppe von vielen tausend Stufen, und das Tal darunter
schien weit entfernt.
(John Ronald R. Tolkien)
Von oben kommend hat man natürlich einen ganz anderen Blick als beim Aufstieg. Besonders der mittlere Abschnitt der Treppe, der an einer fast senkrecht abfallenden Felswand entlang führt, bietet einen atemberaubenden Anblick. Ich bewundere die Baukunst der Handwerksmeister, die diese Stufen in alter Zeit erstmalig errichtet haben. Zur Nachmittagszeit läge die Treppe in voller Sonne, doch haben sich inzwischen erneut Quellwolken zusammengefunden, sodass mich die Kraft der Sonne während der meisten Zeit des Abstiegs nicht trifft. Der Aufstieg zum Auto auf der Nordseite ist genauso schattig wie am Morgen. Hier freuen sich die kleinen Reptilien wie die Kieleidechse über jeden sonnigen Stein. Von dieser Position sehe ich, dass ich nicht der einzige Besucher der Treppe war, mindestens zwei weitere Grüppchen kann ich auf den Stufen erkennen.
Bei der Rückkehr nach Monodéndri wundere ich mich zunächst über den regen Betrieb in den Gassen des Dorfes. Da wird mir der Wochentag bewusst: Samstag - das sind bestimmt alles Wochenendausflügler, welche die drückende Hitze in Ioánnina gerne mit der frischen Bergluft tauschen. Ich lasse mich im Zentrum nieder, trinke ein kühles Mámos und beobachte aufmerksam die Entwicklung der Wolken. Es beginnt bald wieder zu donnern, bleibt zunächst jedoch trocken. Erst gegen 19 Uhr öffnen sich die Himmelsschleusen, so weit sie es vermögen. Bevor die Straßen wieder zu reißenden Sturzbächen werden, rette ich mich in die nächstgelegene Taverne.
Der Regen erreicht eine ungeheure Intensität, fällt aber nahezu senkrecht, sodass ich auf der überdachten Terrasse durchaus draußen sitzen kann. Ich bestelle geschmortes Schweinefleisch mit Pommes und dazu einen Tomaten-Gurkensalat. Letzterer enthält zusätzlich Paprika, Oliven und rote Zwiebeln und ist somit eigentlich ein Bauernsalat ohne Féta. Ein Mýthos-Bier macht die Mahlzeit vollständig.