Regen fiel in der Nacht, doch am Morgen strahlt die Sonne an einem fast wolkenlosen Himmel. Das sind perfekte Bedingungen für eine Wanderung, die mich mit besonderer Vorfreude erfüllt: der Abstieg in die Víkos-Schlucht zu den Quellen des Voidomátis.
Etymologisch kommt das Wort Voidomátis aus dem Slawischen und bedeutet "gutes Wasser" (auch der Begriff Zagória ist slawischen Ursprungs, "zá góri" heißt soviel wie "hinter den Bergen"). Er gilt gemeinhin als einer der saubersten Flüsse Europas und hat auf seiner gesamten Länge Trinkwasserqualität. Der Oberlauf wird von unzähligen Bächen gespeist, die jedoch allesamt im Sommer trocken fallen. Dass der Voidomátis dennoch ganzjährig wasserreich ist, verdankt er enorm ergiebigen Karstquellen unterhalb des Örtchens Víkos am Grund der gleichnamigen Schlucht.
Ich packe mein Proviantpaket und steuere das Dorf Víkos an. Die Strecke ist wunderschön zu fahren: kaum Verkehr, kurvenreich und herrliche Landschaft. Kurz vor dem Ziel taucht hinter einer Biegung die markante Silhouette der Berggruppe "Türme von Pápingo" auf, welche den nördlichen Abschluss der Víkos-Schlucht bilden. Wenige Minuten später erreiche ich das Dörfchen und stelle den Wagen vor dem Ortseingang ab.
Bevor ich losgehe, steige ich zunächst zum "Víkos Viewpoint" auf, einer bekannten Aussichtsplattform, von der aus man geradewegs in den knapp sieben Kilometer messenden Hauptabschnitt der Schlucht schauen kann. Es ist ein herrlicher Ausblick, aber ich bin so erfüllt von ungeduldiger Vorfreude, dass ich nicht lange verweile. Dort will ich hin.
Einfach losgehen. Entscheidend ist nicht das Logo an der Jacke. Offen sein, durchlässig werden für die
Einflüsse von Natur und Landschaft und nicht zuletzt für die innere Stimme.
(Ulrich Grober)
Um 9:45 Uhr beginne ich den Abstieg. Zunächst ist der Weg mit Natursteinen gelegt, jedoch nur bis zu einem Marienschrein, der vermutlich den Zweck erfüllt, sich vor dem weiteren Abstieg einen letzten Segen einzuholen. Oder sich die ganze Sache nochmal zu überlegen. So schlimm ist es nicht, der Weg verliert zwar an Komfort, bleibt aber weiterhin recht gut begehbar, wenn es auch Abschnitte gibt, an denen eine gewisse Trittsicherheit durchaus vonnöten ist.
Bald schon hört man das Rauschen des Flusses und tief unten am Schluchtgrund schimmert das türkisfarbene Wasser durch das Grün der Bäume. Daneben befindet sich eine alte Einsiedelei. So verlockend der Anblick auch ist, er muss warten. Zunächst möchte ich dem Verlauf der Schlucht eine Zeit lang folgen und erst auf dem Rückweg die Quelle zur Erfrischung aufsuchen.
Sobald man den Grund erreicht hat, verläuft der Weg zum größten Teil im Schatten der Bäume und weist kaum nennenswerte Steigungen oder Gefälle auf. Da er ein offizieller Wanderweg ist, finden sich in regelmäßigen Abständen Markierungen an Steinen oder Bäumen. Mehrfach sehe ich Eidechsen, die sich nach der kühlen Nacht auf sonnigen Steinen auf Betriebstemperatur bringen. Meistens sind sie so scheu, dass ich sie lediglich weg huschen sehe, nur selten bekomme ich ein Exemplar bildgerecht vor die Linse.
Ich folge dem Hauptabschnitt der Schlucht bis in Höhe der Felsformation Stáni Astráki und kehre dann um. An der Abzweigung, die durch eine steile Seitenschlucht zum Ort Pápingo führt, mache ich einen Abstecher zum Flussbett. Wer sich den kiesigen Grund eines trockenen Flusses vorstellt und sich fragt, warum der Wanderweg nicht einfach dort hindurchführt, bekommt hier die Antwort. Das von den hoch gelegenen Aussichtspunkten gut begehbar erscheinende Flussbett entpuppt sich aus der Nähe als ein kaum durchdringbares Meer aus bis zu mannshohen Steinen. Auf dem Foto habe ich extra meinen Tagesrucksack zum Größenvergleich deponiert.
Gegen Zielsetzungen ist nichts einzuwenden, sofern man sich dadurch nicht von interessanten Umwegen
abhalten lässt.
(Mark Twain)
Nach diesem Abstecher kehre ich auf den Hauptweg zurück und finde kurze Zeit später die nicht markierte und leicht zu verfehlende Abzweigung zur Quelle und der nahen Einsiedelei. Letztere ist größer, als es von oben den Anschein hatte. Die kleine Kirche steht offen, ist vollständig eingerichtet und sauber. Kein Müll liegt herum und keine Anzeichen von Vandalismus trüben das Bild. Zu beiden Seiten wird sie von Räumen flankiert, die vermutlich als Schlaf-, Vorrats- und Arbeitszimmer dienten. Wer auch immer hier gelebt haben mag, brauchte sich um seine Trinkwasserversorgung jedenfalls keine Gedanken zu machen. Es sind nur wenige Schritte und einige Steine hinabzuklettern und man erreicht die "Quellen des Voidomátis".
Wenn ich mir früher eine Quelle vorgestellt habe, dachte ich an ein sanft einer Felswand entspringendes Rinnsal. Das hier hat eine vollkommen andere Dimension. Wenn es bei Wolfgang Petry heißt: "Das ist Wahnsinn, warum schickst du mich in die Hölle?", so fällt mir bei diesem Anblick ein: "Das ist Wahnsinn, warum schickst du mich in den Himmel?". Denn nichts anderes als eine paradiesische Szene erstreckt sich vor meinem Auge. Innerhalb von 100 bis 200 Metern verwandelt sich die Steinwüste des Flussbetts in ein Zauberwerk von Farben und sprudelndem Wasser.
Zwischen den hellgrauen Felswänden und Kieseln changiert die Farbe des jungen Flusses von hellem Aquamarin über alle Abstufungen von Türkis bis hin zu tiefem Tintenblau. Das lichte Grün der sonnendurchfluteten Baumkronen bildet das würdige Dach des von der Natur erschaffenen Gesamtkunstwerks. Besonders genießen lässt sich das Ganze, da neben dem Rauschen des Wassers kaum ein anderes Geräusch wahrnehmbar ist. Nur wenige Menschen haben den Weg hierher gefunden, eine Handvoll hartgesottener Wanderer, die an diesem Ort die Natur und die Erfrischung genauso genießen wie ich und sich kaum mit gedämpften Stimmen zu unterhalten wagen.
Ich steige ins eiskalte Wasser, trinke mich satt und fülle meine Feld- und alle weiteren Flaschen mit dem köstlichen Nass. Authentischer lässt sich eine Víkos-Flasche sicher nicht wieder befüllen. Danach suche ich mir ein gemütliches Plätzchen auf einem mannshohen Kiesel und genieße meinen mitgebrachten Proviant. Ich sitze eigentlich nicht an, sondern mitten in der Quelle. Unmittelbar unter dem Stein, auf dem ich sitze, strömt das Wasser wie auf vielen weiteren Metern aus allen Spalten hervor. Eine wundervolle, einmalige Szenerie!
Seit längerer Zeit zum ersten Male genieße ich hier jene köstlichen Augenblicke, die auf Jahre hinaus
der Seele Glanz verleihen und um derentwillen man eigentlich lebt.
(Gerhart Hauptmann)
Die Pause wird ziemlich lang, ich mag hier gar nicht mehr aufbrechen. Als ich mich schließlich doch wieder auf den Weg mache, ist bereits früher Nachmittag und ich bin vollkommen alleine. Das gesamte Areal des Quelltopfs ist menschenleer. Da sich bereits die ersten Kumuluswolken bilden und es schwül zu werden droht, fülle ich alle vorhandenen Flaschen erneut auf und beginne den Aufstieg. Es ist laut Wetter-App zwar kaum mehr als 27°C, aber das wissen die sonnendurchglühten Felsstufen auf der zu dieser Tageszeit schattenlosen, steilen Südflanke ja nicht.
Als ich schließlich Víkos erreiche, bin ich froh, am Dorfplatz eine Taverne vorzufinden. Nach all dem vielen guten Wasser ist der Geschmack eines Kafé frappés nicht zu verachten. Der Ort liegt im Schatten der Bergtürme, hinter denen sich die Wolken mehr und mehr verdunkeln. Vor der Rückfahrt suche ich erneut den "Víkos Viewpoint" auf und genieße das beeindruckende Panorama, das diese Plattform bietet. Aus der Ferne ist bereits erstes Donnergrollen zu vernehmen.
Auf der Rückfahrt nach Monodéndri gerate ich im "Feierabendverkehr" in einen handfesten Stau. Ursache sind Rindviecher. Diese gibt es zwar auf deutschen Straßen auch zur Genüge, aber hier ist es tatsächlich eine Herde Nutzvieh, die entlang und auf dem Asphalt nach Hause trottet. Zum Säugen ihrer Kälber bleiben sie gerne mitten auf der Straße stehen. Es ist kaum zu glauben, wie stur die sein können. Die schauen dich dabei einfach nur mit ihren großen sanften Augen treuherzig an...
Bei der Ankunft am Hotel hört man kräftiges Donnern aus allen Richtungen, aber es fallen bislang nur wenige Tropfen. Als ich mich nach einer kleinen Pause zum Abendessen auf den Weg mache, ist es bereits wieder freundlich. Wie am ersten Abend beehre ich die Taverne am zentralen Dorfplatz, traue mich jedoch im Freien unter der großen Platane Platz zu nehmen, da die Gewittergefahr offensichtlich bereits gebannt ist. Als Spezialität des Hauses werden Riesenbohnen (Gígantes) mit Blattspinat beworben. Das Gericht ist ungewöhnlich, aber sehr schmackhaft. Dazu kombiniere ich gegrillte Lammrippchen und ein Mámos-Bier. Nach dem recht fetten Fleisch darf es dann gerne ein Tsípouro sein.
Während des Essens komme ich mit einer deutschen Reisenden ins Gespräch. Wie ich selbst vor fast 20 Jahren, hat sie gerade damit angefangen, Griechenland zu erfahren: Ein Mietwagen am Flughafen, keine Vorausbuchungen und sehen, wohin einen der Tag treibt. Ich gebe einige Tipps, wir tauschen unsere Erfahrungen aus und bleiben bei einem weiteren Bier so lange draußen sitzen, bis die abendliche Luft zu kühl wird.