Die Nacht ist dunkel und ruhig. Stilvoll, wie es sich für ein Bergdorf gehört, werde ich kurz nach sieben Uhr vom Schrei eines Hahnes geweckt. Der Regen hat sich verzogen und nur in den Tälern halten sich dichte Wolken. Ansonsten ist es heiter bis wolkig und die Vorhersage verspricht einen freundlichen Vormittag sowie stark ansteigendes Gewitterrisiko am Nachmittag.
In Ermangelung eines dafür vorgesehenen Raumes (das Hotel hat erst in diesem Jahr eröffnet und nebenan wird weiterhin gebaut) wird das Frühstück auf das Zimmer serviert. Vor dem Fenster leisten mir einige Spatzen beim Essen Gesellschaft und stören sich dabei nicht an der Katze, die unter dem großen Holunderstrauch umherschleicht und langsam begreift, dass sie keine Chance hat, die gefiederten Häppchen zu erwischen.
Es ist erstaunlich, was alles auf einen kleinen Tisch passt: Brot, Wurst, Käse, Konfitüren, Butter, Joghurt, Honig, Kaffee, Saft, Milch, Cornflakes, Kekse und Kuchen, herzhafte Pasteten und ein gigantisches Omelett - vieles davon hausgemacht. Das reicht nicht nur zum Start in den Tag, sondern auch als Proviant für eine Wanderung. Außerdem wird mir bedeutet, dass ich mich jederzeit am Kühlschrank in der Küche bedienen kann. Das schließt die Bierdosen ein, die dort gut gekühlt vorrätig sind. Alles inklusive!
Gewissermaßen zur Akklimatisierung habe ich für heute eine einfache Tour vorgesehen. Im Wanderführer wird sie lediglich als "kleine Zusatzrunde" erwähnt. Als Einstieg ist sie für mich genau das Richtige. Auch thematisch ist sie interessant, da sie um das Dorf Kípi herum führt und man dabei mehrere der alten Steinbogenbrücken passiert, welche neben der Naturlandschaft das zweite Aushängeschild der Region Zagóri sind.
Die Besiedelung der Zagória ist seit dem 14. Jahrhundert belegt. Die Dörfer lebten vom Handwerk
und Handel und waren auf Kommunikation untereinander und mit dem Rest der Balkanhalbinsel angewiesen, was den Bau von
Brücken über die zahlreichen unberechenbaren Bäche und Flüsse der Region notwendig machte. Ab dem 18. Jahrhundert
wurden die ursprünglichen Holzbrücken durch solide, ein-, zwei- oder dreibogige Steinbrücken ersetzt, die oft bis
heute den Namen ihres Erbauers bzw. Sponsors tragen.
Für den Bau dieser Brücken benutzten die Handwerker eine Art Geheimsprache, das sogenannte Koudarítika, um ihr Wissen
nicht an Ortsfremde preisgeben zu müssen. Der Typus der "Epirusbrücke" ist im ganzen Balkan vertreten (z.B. Mostar).
Ästhetisch gehören die Brücken in der Zagória zu den elegantesten Exemplaren.
Überall klettern Ziegenherden. Ziegenherden kreuzen den Weg oder trollen ihn mit Geläut zu Tal.
(Gerhart Hauptmann)
In der Zagória muss man - mehr als sonst in Griechenland - ständig mit Nutzvieh wie Schafen, Ziegen oder Rindern sowie Hunden auf der Fahrbahn rechnen. Die Luft duftet nach der regenreichen Nacht frisch wie ein Frühlingswald. Noch bevor ich Kípi erreiche, entdecke ich die erste der heutigen Brücken, die etwas im Dickicht verborgene Capitán-Arkoúdas-Brücke ("Kapitän Bär"), die 1806 erbaut wurde. Einige Meter weiter findet sich an der Stelle, an der die Straße das sommertrockene Flussbett des Bagiótikos überquert, zwischen einer markanten Felsformation die besonders fotogene Kókkorou-Brücke. Sie beeindruckt mit einem einzigen 23 Meter langen Rundbogen aus dem Jahr 1750 und zählt damit zu den größten und ältesten Brücken der Region.
Die Straße folgt anschließend der Schlucht des Bagiótikos, welche mit einer beeindruckenden Steinlandschaft die Blicke auf sich zieht. Dann erreiche ich das Dorf Kípi. Ich parke vor einer Taverne und marschiere zunächst die Straße entlang in südöstlicher Richtung. Wie überall im hiesigen Bergland ist die Wasserversorgung kein Problem. Trinkbrunnen stehen in regelmäßigen Abständen am Wegesrand und wo es nicht für den Bau eines steinernen Brunnens gereicht hat, lässt man das kühle Nass einfach aus einem provisorisch aufgehängten Hahn laufen.
Außerhalb des Ortes finde ich einen unscheinbaren Pfad, der hinunter zur Petsióni-Brücke von 1830 führt. Hier schwappen nicht nur ein paar Wasserreste im Flussbett, in der gesamten Umgebung ist der Untergrund sehr feucht. Dem Vorteil, durch einen schattig-kühlen, dicht belaubten Wald gehen zu können, steht ein Nachteil gegenüber: Myriaden aufdringlicher Fliegen umschwirren mein Gesicht. Zwar beißen oder stechen sie nicht, stören jedoch aufgrund ihrer gewaltigen Anzahl enorm. Hört man nur zwei Sekunden auf, sie mit der Hand vor dem Gesicht wedelnd zu vertreiben, setzen sie sich in die Augenwinkel oder Ohren. Erst im Nachhinein lese ich, dass genau dieses Tal bei Kípi für diese Plagegeister berüchtigt ist.
Je mehr man sich vom Flusslauf entfernt oder etwas ansteigt, wird die Fliegensituation erträglicher. Auf der gegenüberliegenden Talseite wende ich mich nach Nordwesten, wo die Landschaft offener wird. Warum vor 16 Jahren jemand ausgerechnet hier einen Trinkbrunnen sowie einen Schrein mit Marienikone aufgestellt hat, ließ sich nicht ermitteln. Der Weg führt indes gradlinig weiter, bis man eine alte Wassermühle erreicht. Das fast fensterlose Gebäude steht offen und im Inneren ist es überraschend sauber. Es fliegt weder Müll umher, noch ist ein unangenehmer Geruch bemerkbar. Sogar ein Kamin und ein alter Mühlenkasten stehen ungeplündert in den Räumen.
Gegenüber des Hauses findet sich die nach der Mühle benannte Mílos-Brücke. Das niedrige, bereits 1748 errichtete dreibogige Bauwerk ist sehr gut erhalten und hat sogar noch das ursprüngliche, steinerne Geländer auf der kompletten Länge. Anschließend steigt der bisher fast ebene Weg an und entfernt sich etwas vom Flussbett. Das Gelände wird steiniger und ich registriere mit Respekt, dass hier wohl durchaus anspruchsvolle sportliche Wettbewerbe abgehalten werden. Neben einer Markierung für einen 80 Kilometer messenden Mountainbike-Trail finde ich eine Halbmarathon-Marke mitten auf einem schotterigen Anstieg.
Auch ich habe inzwischen mehr als die Hälfte der heutigen Strecke hinter mir. Die nächste bemerkenswerte Station bildet die Plakídas- oder Kalogerikó-Brücke von 1814. Ihre drei großen Steinbögen überspannen immerhin 56 Meter. Über sie wechsele ich zurück auf die nördliche Talseite und steige zunächst ins Flussbett hinab. Von unten wirken die Bögen weitaus beeindruckender als von oben. Große und kleine Kinder haben im Kies des trockenen Flusslaufs offensichtlich einen Wettbewerb um den höchsten Steinturm abgehalten. Das Siegerbauwerk zeugt jedenfalls von einem außergewöhnlich ruhigen Händchen und gutem Auge. Ob es immer noch steht?
Die Plakídas-Brücke ist von der Autostraße gut zu sehen und über einen gepflasterten Pfad leicht zu erreichen. Daher ist sie vermutlich das am häufigsten fotografierte Motiv der Zagória. Ich habe es bereits auf vielen Postkarten, Bildbänden und Kalendern gesehen. Sogar im Hauptartikel zur Zagóri in der Wikipedia ist ihr Bild vertreten. Die besondere Schönheit der Konstruktion resultiert aus den Bögen, die an eine organische, wellenartige Bewegung erinnern.
Was das Auge hier erblickt, sind eben keine bloßen Steine, sondern lebende Wesen.
(Jacob Christoph Burckhardt, 1855)
Ich folge nun wieder der Straße bis zur Einmündung des Vikákis-Tals kurz vor dem Ortseingang von Kípi. Einige hundert Meter talaufwärts wird dieses von der Lazarídi-Kontodímou-Brücke des Baujahrs 1764 überspannt. Sie schließt an beiden Seiten kunstvoll direkt mit den steilen Felswänden ab, in die auch die zuführenden Wege hineingeschlagen wurden. Hier treffe ich auf einen "richtigen" Wanderer, einen Deutschen, der sich den gesamten Zagória-Trek mit allen Etappen in der vorgesehenen Zeit vorgenommen hat. Am kleinen gelben Buch in der Hand kann man sich gut untereinander erkennen.
Ich beende die Runde mit der Rückkehr ins Dorf und lasse mich in einer Taverne nieder. Die kleine Einstiegsrunde war ein schöner Start in den Urlaub. Mit einer Cola und einem Kafé frappé sind Blutzucker- und Flüssigkeitsspiegel bald wieder im Gleichgewicht. Anschließend fahre ich nach Monodéndri zurück.
Es ist später Mittag und auch wenn es sich inzwischen etwas bewölkt hat, ist aktuell kein Regen in Sicht. Ich entschließe mich, den Aussichtspunkt Groúnia zu suchen, den am wenigsten bekannten der vier Aussichtspunkte in die Víkos-Schlucht. Die weiteren sind Oxiá, Belói und der im Dorf Víkos selbst. Oxiá habe ich erst im letzten Jahr zusammen mit Heny aufgesucht, die anderen beiden stehen in den nächsten Tagen auf meinem Programm. Groúnia ist der einzige von den Vieren, der mir bisher vollkommen unbekannt ist.
Der Weg führt zunächst aus dem Dorf hinaus und deckt sich mit dem gut ausgeschilderten O3-Wanderweg, der Teil des offiziellen Zagória-Treks ist. Am kleinen Amphitheater weist ein unauffälliges Schild von der Hauptroute nach links ab und führt mich tief in den Wald. Es ist ein schmaler Pfad, aber bei Tageslicht gut erkennbar und gelegentlich sogar mit einem roten Farbpunkt auf Steinen oder Bäumen markiert. Der häufige Niederschlag hat seine Spuren hinterlassen: Schwer von Moosen und Flechten bedeckt hängt das Totholz herab und scheint nach dem Wanderer zu greifen.
Als sie nach vorn schauten, sahen sie nur Baumstämme von allen möglichen Größen und Formen [...] und
alle Stämme waren grün oder grau von Moos und [...] wuchernden Gewächsen.
(John Ronald R. Tolkien)
Der Weg ist weder weit noch anstrengend, und lediglich auf den letzten Metern muss ich ein wenig klettern, um die Felsplatten des Aussichtspunkts zu erreichen. Es lohnt sich. Ich sitze gegenüber von Agía Paraskeví, allerdings deutlich höher, sodass ich auf das alte Kloster hinabschauen kann. Auf der anderen Seite mündet die Mezariá- in die Víkos-Schlucht, deren Hauptteil hier beginnt und sich zu meiner Linken erstreckt. Ein großartiges Panorama, das den kleinen Abstecher unbedingt wert war. Ich nehme auf den flachen Felsstufen Platz und verzehre die Reste meines Frühstücksproviants. Es ist vollkommen still.
Demut gebietend und erhebend zugleich, kaum etwas in der Natur flößt uns soviel Ehrfurcht ein wie der
Anblick von Bergen.
(Kofi Annan)
Der Aussichtspunkt gehört definitiv zur Gänsehaut-Klasse. Wenn ich jemals das Glück haben sollte, mir einen Ort zum Sterben aussuchen zu dürfen, wird Groúnia sehr weit oben auf meiner Wunschliste stehen. Ich bleibe lange, bis ich schließlich von einem plötzlich einsetzenden Donnergrollen aufgeschreckt werde. Es scheint nicht unmittelbar nahe zu sein, trotzdem mache ich mich auf den Rückweg. Der Nachmittag ist nicht alt und ich überlege mir, was ich unternehmen könnte, ohne mich allzu weit von einem regensicheren Unterschlupf zu entfernen. Ich beschließe die Fahrt zum "Stone Forest", einer Ansammlung pittoresker Felsen, nicht weit außerhalb von Monodéndri.
Die Flyschsandstein-Formationen sind sehenswert, aber in dieser Gegend nichts Außergewöhnliches. Auf dem Weg nach Kípi habe ich heute Morgen deutlich beeindruckendere erblickt. Ich streife ein wenig herum, entdecke neben den Felsen einige Elfenbeindisteln, die mindestens genauso viel Aufmerksamkeit verdienen wie die Steine und kehre schließlich ins Dorf zurück. Nahe dem zentralen Platz kann ich meinen Elektrolythaushalt mittels eines Mámos-Bieres und den dazu gereichten Salzchips ausgleichen. Für heute, so denke ich mir, hab ich genug gesehen.
So kann man sich irren. Die Gewissheit, das Gewitter habe sich verzogen, weckt meinen Aktivitätstrieb erneut. Da ich genau an der Abzweigung zum Paraskeví-Kloster sitze, ist das Ziel naheliegend. Ich spaziere den gepflasterten Weg hinab und finde, was ich suche: Den Einstieg zum alten Fluchtweg, über den die Mönche früherer Zeiten bei Gefahr eine Höhle erreichen konnten. Der Zugang ist nur halbherzig abgesperrt und wie schon oft amüsiere ich mich über den Hinweis, dass alles, was folgt auf eigene Gefahr geschieht. Willkommen im Leben!
Der in die senkrechte Felswand hinein geschlagene Pfad ist nach wie vor ein Erlebnis, auch wenn es nicht mein erster Besuch hier ist. Die Fluchthöhle ist weiter hinten gut zu erkennen, aber es wäre wirklich unverantwortlich zu versuchen, sie ohne Absturzsicherung zu erreichen. Ich gehe so weit es gefahrlos möglich ist. Die Passage über den nur gut einen Meter breiten Weg ohne jede Sicherung gegen einen mehrere hundert Meter tiefen Absturz ist Nervenkitzel genug. Nach der Rückkehr auf sicheres Terrain habe ich auch wieder ein Auge für die Schönheit der hiesigen Flora. Bei zunehmend aufreißendem Himmel gelange ich ins Dorf und über die gut frequentierte "Fußgängerzone" zurück ins Hotel.
Zum Abendessen suche ich die Taverne auf, in der ich gestern das letzte Bier des Tages getrunken hatte. Es ist inzwischen sonnig geworden und so macht es Spaß, auf der hoch gelegenen Terrasse zu sitzen. Ich esse frittierte Zucchinibällchen (Kolokithokeftédes) und ein Stück Hähnchenpastete. Dazu gibt es erneut lokale Getränke: Ein würziges "Mountain Drops"-Bier und zum Abschluss des vollen Tages den gleichen exquisiten Tsípouro wie gestern.