Die Wettervorsage behält recht: Es zieht ein Band leichter Bewölkung über uns hinweg. Da wir heute viel zu Fuß auf den Straßen der Stadt unterwegs sein werden, kann sich das als Vorteil erweisen. Zunächst spazieren wir durch den Nationalgarten, der unserem Hotel beinahe direkt gegenüber liegt. Die grüne Lunge der Stadt blickt auf eine fast 200-jährige Geschichte zurück. Die ersten der mächtigen Washingtonpalmen wurden bereits von Amalie, der ersten Königin des neugriechischen Staates gepflanzt. Mit vielen alten Bäumen, ein paar Teichen, Kleintiergehegen und Volieren ist er besonders in der Hochsommerhitze ein angenehm schattiger Ort, wie ich seit fast 40 Jahren aus eigener Erfahrung weiß.
Im Süden des Parks liegt das Záppeion. Das nach seinem Stifter benannte neoklassizistische Gebäude wird gerne für Tagungen und Kongresse verwendet, steht für eine Besichtigung jedoch leider nicht offen. Durch die gläserne Tür lässt sich immerhin ein Blick in die Haupthalle und das dahinterliegende lichtdurchflutete Atrium werfen.
Unser nächstes Ziel ist das Panathenäische Olympiastadion. Bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. wurde in einer natürlichen Mulde zwischen zwei Hügeln eine Sportstätte errichtet, um dort die jährlich stattfindenden Panathenäischen Spiele abzuhalten. In römischer Zeit wurde es als Arena benutzt. Ende des 19. Jahrhunderts wurde es für die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit wiedererrichtet und gilt seitdem als Geburtsort dieser Veranstaltungen.
Die Fähigkeit zu zitieren ist ein tauglicher Ersatz für Intelligenz.
(William Somerset Maugham)
Die schattenlosen Ränge fassen heutzutage ca. 60.000 Zuschauer. Tatsächlich freue ich mich jetzt über die Schleierwolken, ohne die es in dem steinernen Oval schnell unerträglich heiß würde. Am besten lässt sich die Dimension des kolossalen Bauwerks von den obersten Rängen erfassen. Durch ein Tor in den Tribünen führt ein Tunnel zum Olympiamuseum. Bei der Rückkehr kann man das Gefühl des Einlaufs der Athleten hautnah nachempfinden. Gegenwärtig wird das Stadion nur noch gelegentlich für Großveranstaltungen verwendet, so z.B. als Ziel des jährlich stattfindenden Athén-Marathons. Ungeachtet dessen ist es ein bedeutendes Symbol des griechischen Nationalstolzes.
Auf den obersten Rängen der Stirnseite konnten wir aus dem dahinter befindlichen Wohngebiet die unverkennbaren Rufe von Marktschreiern vernehmen. Wir versuchen unser Glück, nehmen die nächstgelegene Abzweigung, die in die besagte Richtung führt und werden rasch fündig. Auf der Archimídous findet tatsächlich ein großer Straßenmarkt statt, und das fernab jeden Tourismus. Der Markt ist ein wahres Paradies für Vegetarier. Lediglich am Ende gibt es ein paar Fischverkäufer, ansonsten prangt das herrlichste Obst und Gemüse, Kräuter und Oliven in jedweden Sorten, Formen und Farben auf den Ständen.
Auf dem folgenden Gang, im weiten Bogen südwestlich um die Akropolis herum, kommen wir ordentlich in Schwitzen. Es ist inzwischen Mittagszeit und auch wenn die Sonne nicht brennt, sind die Temperaturen durchaus frühsommerlich. Die lange sogenannte "Archäologische Promenade" ist zwar ein schöner und gepflegter Spazierweg, aber erst an ihrem nördlichen Ende, der Apostel-Paulus-Straße, bieten Cafés die Möglichkeit für eine Erfrischung. Von unserem Platz haben wir einen freien Blick auf den Areopág und die dahinter liegende Akropolis.
Da stellte sich Paulus in die Mitte des Areopags und sagte: Athener, nach allem, was ich sehe, seid ihr
besonders fromme Menschen. Denn als ich umherging und mir eure Heiligtümer ansah, da fand ich auch einen Altar [...].
(Apostelgeschichte 17, 22-23)
Am Nachmittag steht ein Besuch der Agorá an. Das weitläufige Gebiet war das Zentrum Athéns zu hellenistischer Zeit. Vom früheren Handelsplatz mit öffentlichen Verwaltungsgebäuden, Tempeln und Altären ist größtenteils nur ein Ruinenfeld geblieben, das es schwermacht, die einstige Bedeutung des Ortes zu erfassen. Überblicken lässt sich das Gelände am besten von der Stoá des Attálos. Der zweigeschossige Vorläufer eines modernen Einkaufszentrums wurde rekonstruiert und beherbergt in den Räumlichkeiten der ursprünglichen Läden das Agorá-Museum.
Mein Hauptinteresse gilt jedoch dem Tempel des Hephaístos. Der besterhaltene Tempel Griechenlands hat die fast 2500 Jahre seit seiner Errichtung beinahe unbeschädigt überstanden. Sowohl die innere Cella als auch die umgebenden dorischen Säulen, Friese, Giebelfiguren und sogar die Dachkonstruktion sind erhalten. So vollständig ist Antike nur selten zu erleben. Und von der Anhöhe, auf welcher der Tempel erbaut wurde, liegt einem die Agorá vor der Kulisse der Akropolis zu Füßen.
Das Ausgrabungsgelände wird von der Trasse der Metro-Linie 1 abrupt beschnitten. Beim Bau der Gleise vor 150 Jahren hatte Archäologie halt noch nicht den heutigen Stellenwert. Jenseits der Bahn empfängt uns die moderne Stadt mit einer Fressmeile. Wir wollen am Abend hierher zurückkehren. Auf dem Weg zum Hotel müssen wir über einen kreativ-pragmatischen Ansatz beim Denkmalschutz staunend schmunzeln.
Während der Siesta erreicht uns die Nachricht vom Tod eines nahen Familienangehörigen. Da morgen eh unser letzter Tag ist, steht ein vorzeitiger Abbruch der Reise nicht zur Debatte. Nachdem der erste Schock überwunden ist, entzünden wir in der großen Mitrópolis-Kirche einige Kerzen zum Gedenken an den Verstorbenen.
Der Verstand kann uns sagen, was wir unterlassen sollen. Aber das Herz kann uns sagen, was wir tun müssen.
(Joseph Joubert)
Zum Abendessen kehren wir in die vorhin entdeckte Verpflegungsmeile der Adrianoú-Straße zurück. Hier werden vor allem Touristen verköstigt und so machen wir uns gar nicht erst die Mühe, etwas Außergewöhnliches zu finden. Als Gruß aus der Küche wird eine feine Olivenpaste aufgetischt, dann folgen griechischer Salat, Souvlákia und Kebab. Ein Stück Riváni, ein gern zum Nachtisch gereichter Grießkuchen, rundet die Speisefolge ab. Später nehmen wir in einer ruhigen Eckbar in der Nähe unseres Hotels Platz und verdauen die traurigen Nachrichten bei einem Glas Rosé bzw. Tsípouro.
Die größte Kunst ist es, zu lachen, wenn Witze gefallen sind, zu weinen, wenn was Trauriges los ist;
reden nach Bedarf, singen sich selbst zum Trost, schweigen, wenn dir Gedanken kommen, schlafen, wenn du müde bist,
aufstehen, wenn die Arbeit ruft, trinken, wenn man durstig ist, aussaufen mit Freunden zusammen, fortgehen, wenn’s
Zeit ist.
(Werner Helwig)