Wir haben heute einiges vor und stehen dementsprechend früh auf. Zum Abschied läuft uns im Flur ein letzter Gecko vor die Füße. Wir packen unsere Siebensachen in den Kofferraum und setzen unsere Reise fort. Das Ziel ist Metéora.
Mit je einer ofenwarmen Spanakópita und einer Tirópita als Wegzehrung geht es los. Es herrscht wenig Verkehr und ich bin nicht traurig, dass wir auf der tristen Strecke zügig vorankommen.
Der Weg durch die Ebenen von Larissa [...] ist für Leib und Auge gleich ermüdend, weil es [...] an
Schatten und an Bäumen fehlt, und man nichts erblickt als das schmutzige Gelb der Stoppeln und des versengten
Grases.
(David Urquhart, 1839)
Erst die letzten Kilometer zwischen Tríkala und Kalambáka bringen etwas Abwechslung in die Landschaft: Baumwolle wird hier angebaut, deren schneeweiße Samenkapseln sich bereits zu öffnen beginnen. Dazwischen gedeiht Tabak und bringt mit seinem leuchtenden Grün etwas Farbe ins Spiel.
Die letzten 15 Kilometer verläuft die Straße schnurgerade auf Kalambáka zu. Wie eine Fata Morgana lösen sich die Felsen von Metéora allmählich aus dem Morgendunst und nehmen Gestalt an. Ich war schon öfters hier, aber solange ich selber mit dem Auto in Griechenland unterwegs bin, habe ich Metéora immer von Norden her angefahren. Dadurch ist dieser faszinierende Anblick für mich völlig neu. Je mehr man sich Kalambáka nähert, desto deutlicher zeichnen sich die Formationen ab und die Stadt am Fuße der Felsen gewinnt Kontur. Wie würde ein Amerikaner es formulieren: "It’s amazing!"
Am Stadtrand biegen wir rechts ab und gelangen in einer weiten Schleife zu den Klöstern hoch. Nach zwei Stunden fast kurvenloser Fahrt durch braune Ebenen ist es eine Wohltat, die mehrere Hundert Meter aufragenden Felsen auf engen Kurven zu erklimmen, umgeben von grünem Wald. An einem grandiosen Aussichtspunkt gegenüber des Klosters Agía Triáda machen wir eine Pause und verzehren dabei unsere Pitas. Das Wetter könnte für einen Besuch in Metéora nicht besser sein!
Die einzigartigen Metéora-Klöster gehören zum UNESCO-Weltkulturerbe. Der Name leitet vom griechischen Wort für „in die Höhe heben, schweben“ ab und beschreibt die Lage der Klöster, die auf bis zu 400 Meter hohen Sandsteinfelsen erbaut wurden und bei Dunst manchmal in der Luft zu schweben scheinen. Wie die ersten Mönche es im 10. oder 11. Jahrhundert schaffen konnten, sie in dieser Lage zu errichten, ist nicht eindeutig geklärt. Von den ursprünglich 24 Klöstern sind heute noch sechs bewohnt und können besichtigt werden.
An der Straße, welche die noch bewohnten Klöster verbindet, gibt es mehrere Parkplätze mit Aussichtpunkten. Man kann sich hier lange aufhalten, über die Felsen klettern, die Landschaft genießen oder einfach nur staunen. Von einer der beliebtesten Stellen aus lassen sich gleich vier der sechs Klöster sehen. Megálo Metéoro, das größte und am höchsten gelegene, rechts davon Varlaám, links und deutlich tiefer gelegen Roussánou und ganz links das am niedrigsten gelegene Ágios Nikólaos. Im Hintergrund verschwimmt der Blick in den fernen Höhen des zentralen Píndos-Gebirges. Wie würde der Amerikaner erneut formulieren: "It’s amazing! I love it!". Auch wir sind begeistert.
Ich möchte etwas sagen, was nicht überflüssig oder unangebracht ist, aber ich finde keine Worte. Das
Wesen dieser [...] Landschaft selbst verbietet es mir.
(Lawrence Durrell)
Natürlich wollen wir eines der geschichtsträchtigen Klöster besichtigen und dafür habe ich Megálo Metéoro vorgesehen. Leider ist es ausgerechnet dienstags geschlossen. Ich wusste, dass jedes Kloster an mindestens einem Wochentag geschlossen ist, aber nach meinen Recherchen hätte dieses heute geöffnet sein sollen. Doch nichts ist älter als die Recherche von gestern. Statt enttäuscht zu sein, fahren wir einfach das nächstbeste an: Varlaám.
Schon am Parkplatz vor dem Kloster sind wir sicher, dass dieses geöffnet ist. Es stehen ein paar Dutzend Fahrzeuge hier, deutlich mehr als ich erwartet hatte, aber natürlich eine Größenordnung weniger, als es zu "normalen Zeiten" der Fall wäre. Und wir haben Glück: In Varlaám sind Renovierungsarbeiten im Gange. Dadurch können wir beobachten, dass die legendären Seilwinden auch heute noch Verwendung finden. Zwar nicht mehr, um die Besucher hoch zu ziehen, so aber dennoch sämtliches Baumaterial.
Vor 14 Jahren war ich zuletzt hier, aber so schön hatte ich es nicht in Erinnerung. Es wirkt zumindest von außen mehr wie ein Luxus-Wellnesstempel, denn wie ein Kloster. Es ist makellos in Schuss, die Mauern wie frisch gekärchert, die Pflanzen akkurat gestutzt, die Rasenflächen mit der Schere gemäht. Ich steuere zuerst die Aussichtterrasse an. An diese erinnere ich mich sehr gut, der Blick von hier ist unvergesslich.
Die Erinnerung ist ein Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann.
(Jean Paul)
Danach machen wir einen Rundgang durch die Anlage. Der Vorraum zur Kirche ist prachtvoll renoviert und bildet mit seiner hellen, farbenfrohen Gestaltung einen krassen Gegensatz zu den grausamen Darstellungen von Märtyrer-Folterungen in der Kirche selbst. Die Fresken würden im modernen Mediengesetz sicher als jugendgefährdend eingestuft. Danach tut es gut, wieder ans Tageslicht zu kommen.
Einige Räume weiter ist ein 12.000 Liter fassendes Weinfass zu bewundern, das komplett ohne Metall gebaut ist. Die Dauben sind aus gebogenem Holz und werden durch hölzeren Spangen zusammengehalten. Ab dem 16. Jahrhundert wurde hier der Weinvorrat des Klosters aufbewahrt. Dahinter sind die Arbeiter an der Seilwinde am Werke, die wir schon bei der Ankunft in Betrieb gesehen haben. Die bewohnten Teile der Anlage sind natürlich nicht für die Öffentlichkeit zugänglich, aber auch so lohnt der Besuch sehr.
Zum Abschluss werfen wir einen Blick in das kleine Museum. Einige kunsthandwerklich eindrucksvolle Artefakte sind hier ausgestellt. Mich begeistern wie so oft vor allem die handgeschriebenen und illustrierten Bücher, die es zu sehen gibt. Im Hof entdecken wir schließlich eine Katze, die einen Plastikkorb als Nest für ihren dreiköpfigen Wurf auserwählt hat. Die zahlreichen Bewunderer unter den Besuchern scheinen sie in keiner Weise zu stören.
Die Souvenirstände vor den Toren des Klosters leiden sichtlich unter den geringen Besucherzahlen und preisen etwas zu aufdringlich ihren Tand an. Wenigstens eine Gruppe rumänischer Nonnen und Mönche scheint an einigen Kleinigkeiten interessiert. Wir werfen einen letzen Blick in die Abgründe der Landschaft und fahren schließlich hinab in die Stadt, um vor der Weiterreise eine Kleinigkeit zu essen.
In Kalambáka lassen wir uns auf dem zentralen Platz nieder. Souvláki und gegrillte Bauernwürste (Loukániko), jeweils mit Salat und Pommes werden uns bis zum Abend ausreichen. Bei einem anschließenden Spaziergang sind wir wiederholt beeindruckt, wie mächtig die Felsenwände und -säulen hinter der Stadt aufragen. Eine wirklich einzigartige Kulisse, die wir mit einem letzten Kafé frappé vor der finalen dreistündigen Etappe eingehend genießen.
Der Eindruck der natürlichen Szenerie, die es umgibt, ist drohend und großartig. Ich empfinde eine Art
beengender Bangigkeit in dieser übergewaltigen Nähe der Natur.
(Gerhart Hauptmann)
Am Abend wollen wir in Thessaloníki sein. Das erste Teilstück geht bis Grevená und führt uns eine gute Stunde durch eine idyllische, auch hier überraschend grüne Mittelgebirgslandschaft. Kurz vor der Stadt vertreten wir uns an der Brücke über die Venétikos-Schlucht die Beine, dann nehmen wir die Autobahn in Richtung Osten, auf der wir bei wenig Verkehr rasch vorankommen.
Zwischen Kozáni und Véria passiert es. An der Mautstation Polýmilos nehme ich versehentlich den Schalter, der nur für Besitzer eines elektronischen Tickets vorgesehen ist. Beim Zurücksetzen irritiert mich die nach Hinten extrem schlechte Übersichtlichkeit des Nissan Micras und ich schramme an der linken Betoneinfassung entlang. Erschrocken verreiße ich das Lenkrad, die vordere Felge verhakt sich in einer Spalte zwischen zwei Segmenten und verbiegt sich. Nun ist im wahren Sinne des Wortes die Luft raus!
Das Leben birgt viele Umwege in sich. Die Kunst besteht darin, dabei die Landschaft zu bewundern.
(Buddhistische Weisheit)
Der erste Schreck muss sich zunächst setzen, wobei die Mitarbeiter im Servicebüro der Mautstelle eine große Hilfe sind. Sie geben Tipps, bieten an, bei Sprachprobleme mit dem Pannen-Notdienst zu dolmetschen und stehen mit kaltem Wasser zur Seite. Aber alle Befürchtungen sind unbegründet. Die Mitarbeiter sowohl in der Mietwagenzentrale sowie beim Notdienst sprechen besser Englisch als ich selbst und nach 40 Minuten erscheint ein Abschleppwagen. Der Pannenhelfer begutachtet den Schaden, kommt zum Ergebnis, dass außer dem Plattfuss und Lackschäden nichts Schlimmeres passiert ist und montiert für mich schließlich das Notrad. Mit diesem könne ich ohne Probleme bis Thessaloníki fahren, versichert er mir glaubwürdig, betont allerdings mehrfach, dass ich das Tempolimit von 80 km/h strikt einhalten müsse. Natürlich werde ich das tun!
Nach diesem Intermezzo rollen wir also ohne weiteren Zwischenfall mit gemächlicher Geschwindigkeit die verbleibenden 100 Kilometer bis zu unserem Ziel. In akzeptabler Entfernung vom Hotel finden wir sogar ohne lange Suche am Rande des Eleftherías-Platz einen Parkplatz, der wenigstens bis zum nächsten Morgen gebührenfrei ist. Aber der Tag ist mit seinem Schrecken noch nicht am Ende...
Mein Rucksack steht hinter dem Auto. Ich will nichts Wichtiges im Wagen vergessen und beuge mich zur Kontrolle in den Fond. Es sind weniger als zehn Sekunden bis ich wieder meinen Rucksack greifen will - doch er ist weg! Im Umkreis von zehn Metern ist keine fremde Person zu sehen und kein Flüchtender zu entdecken. Ich renne fluchend hin und her, aber ergebnislos: kein Mensch, kein Rucksack!
Von der gegenüberliegenden Straßenseite kommt ein Passant herbei und fragt, warum ich so aufgeregt sei. Ich erkläre ihm die Situation und er zögert keine Sekunde, die Polizei anzurufen. Auch rät er uns, wir sollen zwischen den Autos und hinter der Mauer zum Platz nachschauen, vielleicht würde ein Dieb sich nur die Kamera greifen und den restlichen Ballast schnellstmöglich wieder loswerden wollen. Wir tun wie geheißen. Nach einer Minute höre ich Heny jubelnd den Rucksack in der Hand schwenken. Der hilfsbereite Passant hat ihn hinter dem übernächsten Auto entdeckt. Es fehlt nichts! Die Steine, die uns von Herzen fallen sind vermutlich in der gesamten Innenstadt zu hören. Der Passant informiert noch die Polizei, dass sich die Sache erledigt habe und macht sich wieder auf seinen Weg, noch bevor ich mich beruhigt habe und auf die Idee komme, ihm einen Finderlohn anzubieten. Was passiert ist, bleibt dennoch rätselhaft. Wer konnte sich in dem kurzen Augenblick den relativ schweren Rucksack schnappen? Ein flinker Dieb, dem der Ballast wegen unserer raschen Reaktion dann doch zu riskant wurde? Oder nur der Streich eines übermütigen Jugendlichen, der einfach nur einem "blöden Touristen" einen Schrecken einjagen wollte. Wenn dem so war - es ist ihm gelungen.
In der Hoffnung auf keine weiteren Überraschungen checken wir im Hotel ein. Jetzt läuft alles rund. Unser Zimmer geht "zum Hof" und erlaubt somit, auch bei geöffnetem Fenster ruhig zu schlafen. Und später ergibt es sich sogar, dass einer der drei Hotelparkplätze frei ist und ich den Wagen dort für die kommenden zwei Tage sicher und kostenfrei abstellen kann.
Nach all der Aufregung des Tages ist uns der Appetit vergangen. Um wieder herunterzukommen setzen wir uns gegenüber dem Hotel in die "Blues Bar" und genehmigen uns Bier und Cocktails. Die dazu servierten Snacks, Nüsse und Salzgebäck, reichen als Abendimbiss allemal.
Morgen ist auch noch ein Tag. Wie simpel das ist, wie beruhigend.
(Klaus Modick)