Am Morgen ist es kühl, sonnig und die Luft so glasklar, wie ich es bisher nur im Frühling erlebt habe. Heny hat Halsschmerzen und etwas geschwollene Lymphknoten - vielleicht haben wir gestern doch zu lange leicht bekleidet in der ungewöhnlich stark abkühlenden Abendluft gesessen. Auf Empfehlung von Doris erstehe ich in der Dorfapotheke Trachisan, ein Medikament, dass von seinen Wirkstoffen her dem von Heny sonst favorisierten Medikament entspricht. Wir verordnen ihr für den Vormittag Bettruhe und um dies zu unterstützen, verabschiede ich mich für eine kleine Bergwanderung.
Im Fundus meiner Reisevorbereitungen lagert genau das richtige für diese Situation. Vom nah gelegenen Bergdorf Miliés ausgehend lässt sich die mythologische Höhle des Kentauren Chíron (altgr.: Cheíron) erreichen.
Chíron, Sohn des Krónos und damit ein Halbbruder von Zeus, galt in der griechischen Mythologie als der erste, der weiseste und der gerechteste der Kentauren, jenen Wesen aus Pferdeleib mit menschlichem Oberkörper. Er gilt als Lehrer vieler Helden wie Jason, Achilles, Nestor oder Odysseus sowie (neben viele anderen) des Asklepios und damit als Begründer der Heilkunde. Des Weiteren war er ein exzellenter Kenner von 2000 píliotischen Bergkräutern und somit ebenfalls Begründer der Pharmazie.
Die ausgeschilderte Route beginnt in der Nähe des Bahnhofs von Miliés. Dieser liegt in einem stillen Dornröschenschlaf, herbstliches Laub bedeckt die Gleisanlagen. Es überrascht mich nicht. Angesichts der Coronakrise hatte ich in diesem Sommer nicht mit einem aktiven Betrieb der Schmalspurbahn gerechnet. Die Wanderung führt fast die gesamte Strecke über einen Kalderími, einen jener alten, gepflasterter Saumpfade, die früher die Bergdörfer mit der Küste verbanden. Zunächst geht es an Gärten und den letzten Häusern vorbei. Hier blühen Blumen und Passionsfrüchte leuchten in der Sonne, dann dominieren Olivenhaine und später dichter Laubwald.
Der Weg ist wunderschön zu gehen, die Höhendifferenz von wenig mehr als 100 Metern macht ihn auch für ungeübte Wanderer geeignet. Dass die Natur Monate mit sehr hohen Temperaturen und ohne einen Tropfen Niederschlag hinter sich hat, sieht man ihr nicht an. Neben Oliven und Feigen finden sich viele Walnussbäume und an manchen Stellen hat der Sturm so viele Kastanien aus den Kronen geschüttelt, dass man kaum treten kann. Am Wegrand gedeihen viele Kräuter, wilder Oregano erfüllt die Luft mit seinem würzigen Duft.
Nach gut der Hälfte des Weges überquert eine Brücke einen Bach, der selbst jetzt noch Wasser führt und dessen Rauschen mich ein gutes Stück begleitet. Der Wald ist alt und verwunschen und an einer Stelle traue ich meinen Ohren nicht: Ein Baum brummt! Ich muss sehr genau hinsehen, bevor ich die unauffälligen Blütenbälle des Efeus entdecke, die Myriaden von Honigbienen anlocken. Ob ich die Höhle finde oder nicht wird mir mit jedem Schritt gleichgültiger - hier ist der Weg das Ziel.
Dieser Wald ist alt. Sehr alt. So alt, dass ich mich fast wieder jung fühle. Er ist alt und voller
Erinnerungen.
(John Ronald R. Tolkien)
Wo der Weg kurz vor der Höhle vom Kalderími abweicht, findet sich inmitten der Wildnis ein zweisprachiger Wegweiser, ganz neu und sogar mit einem QR-Code, der einen zu einer Webseite führt, auf der man sich über die mythologischen Hintergründe von Chíron informieren kann. Die Höhle selbst ist erwartungsgemäß unspektakulär. Ein Loch im Felsen halt, dunkel, kühl und leer, aber immerhin so groß, dass sie zur Vorstellung passt, einem Kentauren als Wohnung gedient zu haben. Ich halte mich nur kurz auf und kehre auf demselben Weg zum Auto zurück. Auf einer Hauswand am Ortsrand entdecke ich eine Gottesanbeterin. Mit einer Körpergröße von fast zehn Zentimetern ist es das größte Insekt, das ich bisher in freier Wildbahn gesehen habe. Später kann ich sie als Afrikanische Riesengottesanbeterin identifizieren.
Als ich gegen Mittag ins Hotel zurückkehre geht es Henys Hals schon deutlich besser und wir entscheiden uns, den Rest des Tages am ortseigenen Strand zu verbringen. In einer der Bars gönnen wir uns eine Stärkung, bestehend aus einem Sandwich, einem Burger und Mýthos-Bier, dann wechseln wir auf die nebenan stehenden Liegen und frönen bei perfektem Badewetter dem Faulenzertum. Da es unser letzter Tag in Kalá Nerá ist, fällt uns später der Aufbruch nicht leicht.
Der Abend ist deutlich milder als der vorherige. Auf dem Weg vom Strand zum Hotel hatten wir unseren gestrigen Kellner mit einem jovialen "see you later" gegrüßt. Wie ernst er es genommen hat, zeigt sich, als wir später wieder ins "Pagasitikos" einkehren. Wir steuern zielstrebig den besten Tisch des Lokals an, eine Sitzgruppe mit gemütlichem Sofa, nah am Wasser. Wir bleiben verdutzt stehen weil der Tisch bereits eingedeckt ist, was in griechischen Tavernen absolut unüblich ist. Ein Kellner erklärt uns, der Tisch sei von einem Kollegen reserviert worden, woraufhin wir einen alternativen Platz ansteuern. In Windeseile erscheint jener Kollege - es ist unser Kellner von gestern - und erklärt uns, dass er den Platz extra für uns freigehalten hat. Wir sind sehr gerührt.
Nach diesem Empfang bekommen wir Tsípouro und Olivenpaste wie am Tag zuvor. Um den Aufenthalt in Kalá Nerá abzurunden, wählen wir die gleiche Kombination, wie an unserem ersten Tag: Tsatsíki, Souvláki und gegrillte Lammkoteletts. Wieder empfinde ich den Endbetrag über 24 € als unter Wert, schließlich war auch ein Viertel Rosé und ein Mýthos darin enthalten. Als Digestif entscheiden wir uns erneut für den Tsípouro.
Als wir im Hotel ankommen, treffen wir Dimitri im Speiseraum beim Abendessen an. Ich habe jedoch den Eindruck, dass er in Wirklichkeit auf uns gewartet hat, um sich ordentlich zu verabschieden. Bei der Gelegenheit schenkt er uns anderthalb Liter seines eigenen "extra native" Olivenöls, welches er neuerdings sogar unter dem Namen "To Pinakiotiko" via Internet vermarktet.