Der Himmel ist morgenfrisch, blau und wolkenlos - nichts steht einem Strandtag im Wege. Vorher nehmen wir im weinberankten Hof des Hotels zum Frühstück Platz und werden von Doris und Dimitri wie alte Bekannte herzlich begrüßt. Dimitri, der neben dem Hotelbetrieb Wein und Oliven anbaut, ist leidlich übernächtigt. Er erzählt, dass er den gesamten Vortag im Olivenhain gearbeitet und abends mit den Arbeitern zu tief ins Tsípouro-Glas geschaut hat. Ich vermute, die Reste vom Vorjahr müssen weg - schließlich steht die Weinlese ins Haus und dann braucht es Platz für den neuen Trester, der nach alter Familiensitte selbst gebrannt wird.
Für Henys ersten Tag im Pílion habe ich ein besonders Highlight vorgesehen. Unser Ziel liegt an der Ostküste der Halbinsel, also auf der offenen Ägäisseite. Auf der Fahrt über die Berge kann der Pílion selbst mich noch überraschen. Es ist ein wahrer Garten Eden, kaum ein Baum, der keine Früchte trägt: Während in den niedrigen Lagen Olivenhaine dominieren, teilen sich Äpfel, Birnen, Walnüsse und Kastanien die mittleren Höhen. Gerade letztere sind extrem zahlreich, nur in Korsika habe ich vergleichbar viele Kastanienbäume gesehen. Erst in den Höhenlagen werden die Nutzbäume von Laubwald abgelöst, Eichen, Buchen und Platanen bestimmen hier das Bild. Trotz des langen, heißen Sommers ist die Landschaft noch immer grün. Angesichts der paradiesischen Zustände wird mir bewusst, dass ich zum ersten Mal zur Erntezeit im Pílion bin. Den Reichtum der Natur habe ich im Frühjahr nie so bewusst wahrgenommen.
Zypressen, Eichen, Lorbeer, Platanen... deren gibt es viele im Pelion. Der Baum ist der Handschlag
zwischen Himmel und Erde.
(Werner Helwig)
Die naive Messung mit einem Lineal auf der Landkarte zeigt die Bucht von Milopótamos kaum elf Kilometer von Kalá Nerá entfernt. Die Straßenentfernung beträgt jedoch 36 Kilometer, für die wir eine Stunde Fahrtzeit benötigen. Willkommen im Pílion!
Natürlich lohnt sich die Fahrt. Alleine der Blick vom höher gelegenen Parkplatz lässt einem das Herz aufgehen: Das Wetter ist traumhaft, das Meer wirkt nachkoloriert blau, der grüne Wald reicht bis zu den sandfarbenen Klippen und eine donnernde Brandung zeichnet einen weißen Gischtsaum an der Grenze zwischen Land und Meer. Das ist kaum zu überbieten!
Ich habe mir das Paradies niemals anders vorstellen können.
(Nikos Kazantzakis)
Über 100 Treppenstufen erreichen wir den Strand. Die perfekt ausgebaute Infrastruktur überrascht mich, gab es bei meinem letzten Besuch vor 15 Jahren doch nichts dergleichen. Es gibt eine kleine, brandneue Snack-Bar, Toiletten, Duschen, Strandliegen und eine "Lifeguard-Station". Letztere ist sogar besetzt und zeigt die Rote Flagge - bei dieser Brandung würde nur ein Lebensmüder ins Wasser gehen. Die anwesende Rettungsschwimmerin lenkt den Blick von der Roten Flagge allerdings gefährlich ab, sie könnte sich aussichtsreich für die nächste Staffel von "Baywatch" bewerben...
Die beiden Teile von Milopótamos werden durch ein Felsentor getrennt. Die hintere Bucht ist kleiner und der nicht von der Brandung überspülte Strand liegt schon früh im Schatten der Felsen, sodass dieser Teil heute menschenleer ist. Doch auch der Hauptstrand ist nicht überlaufen. Selbst zur mittäglichen Stoßzeit sind kaum mehr als zwei Dutzend Gäste anwesend.
Eine solche Brandung wie heute habe ich am Mittelmeer noch nicht erlebt. Bis zu zwei Meter hoch rollen die Wellen an den Strand. Auf die seitlichen Felsen donnern die Brecher mit einem Geräusch, dass man tief im Bauch spürt und lassen die Gischt bis zu zehn Meter hoch spritzen. Auf dem flachen Sandstrand kann man sich der Naturgewalt dagegen einigermaßen kontrolliert aussetzen und die Kraft der Wellen am eigenen Leibe spüren. Das ist ebenso wundervoll wie anstrengend und bei der Wassertemperatur von 26°C besteht keine Gefahr, dass man unangenehm auskühlt. Sobald man sich zu weit vorwagt, erschallt der schrille Warnpfiff der Lifeguard-Nixe.
Es ist herrlich hier. Sonne, Wind und Wellen lassen die Zeit viel zu schnell vergehen. Wir bleiben so lange, bis am Nachmittag die Sonne hinter den Klippen verschwindet und die Bucht in Schatten fällt. Nicht ohne Trennungsschmerz packen wir unsere Sachen und fahren entspannt nach Kalá Nerá zurück. Mit einer halben Wassermelone überbrücken wir das Hungergefühl bis zum Abendessen, zu dem wir nach Sonnenuntergang aufbrechen.
In derselben Taverne wie am Vortag wählen wir heute einen griechischen Bauernsalat, Käsepastete und Spetzofái, eine regionale Eintopf-Spezialität aus grober Bauernbratwurst, Tomaten und Paprika. Heny bleibt bei ihrem Rosé, ich nehme heute einen Weißwein. Der Verdauung helfen wir mit je einem Tsípouro nach, der landesüblich reichlich eingeschenkt wird. Mit der Rechnung über 32,50 € bekommen wir wieder unser Eis und diesmal zusätzlich für jeden einen leckeren Kaffeelikör. Auf dem Rückweg zum Hotel läuft uns beinahe ein winziger Gecko vor die Füße. Wir können es jedoch retten und abseits der Straße in Sicherheit bringen.