Píndos / Pílion 06.06.2017

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Der letzte volle Tag meiner Reise bricht an und erneut ist makelloses Kaiserwetter zu erwarten. Dimítris hatte mir vom größten Kloster des Pílion erzählt und wie sehr er den Fleiß der Nonnen bewundert, die es komplett renoviert hätten. Das möchte ich mir anschauen. Aus Erfahrung weiß ich, dass Klöster oft erst ab 10 Uhr für Besucher zugänglich sind, deshalb fahre ich zunächst in den benachbarten Ort.

Das zwischen 600 und 700 Meter gelegene Ágios Geórgios liegt steil an den Hang geschmiegt und von üppigem Grün umgeben: ein Bergdorf wie aus dem Bilderbuch. Zu dieser frühen Morgenstunde ist die schöne Platiá noch nicht vom Schlaf erwacht, doch wenige Meter bergab finde ich ein bereits geöffnetes Café, in dem ich den Tag mit einem griechischen Mokka eröffne. Die Aussicht ist ebenso großartig wie das Wetter, von irgendwo klingt das Geräusch plätschernden Wassers (wie fast überall im Pílion) und im gegenüberliegenden Garten schaukeln zwei Kinder unter einem Walnussbaum, der sich bereits unter seiner schweren Fruchtlast beugt. Katzen räkeln sich in der Morgensonne und der Duft von Rosen, Oleander und Jasmin wabert durch die Straßen. Die ganze Szene ist fast zu idyllisch, um wahr zu sein.

Um 10 Uhr mache ich mich auf den Weg zum Kloster Taxiarchón. Vor dem eigentlichen Eingang liegt die große renovierte Kirche, welche in markanter Lage mit Panoramablick über den pagasitischen Golf auf einem Bergrücken erbaut wurde. Das Kloster ist wohlgepflegt und ich werde traditionell mit Wasser und süßem Gebäck empfangen. Im Inneren ist nur die Kapelle zu besichtigen. Eine der Schwestern macht mir freundlich aber bestimmt klar, dass Fotografieren unerwünscht sei. Vorher hatte ich allerdings bereits die alte, sehr schön in Holz geschnitzte Ikonostase abgelichtet. Überhaupt fühle ich mich beobachtet und habe den Eindruck, dass man hier lieber unter sich bleibt, sodass ich mich nicht unnötig lange aufhalte. Da sitze ich lieber eine Weile im Schatten der überreichlich blühenden Lindenbäume und lasse mich von deren süßlich-schweren Duft betäuben. Tausende von emsigen Bienen vermitteln einem das Gefühl, in einen Bienenkorb zu horchen. Das Klingeln eines Handys schreckt mich auf - eine vorbeieilende Nonne zieht es unter ihrer Kutte hervor und beginnt heftig zu diskutieren. Ich muss schmunzeln angesichts dieser anachronistisch wirkenden Situation.

Still blühen im Mai die Lindenbäume in den Tälern des Pelion und füllen mit dem Duft ihres zauberkräftigen Honigs die alten zerfallen Höhlen.
(Werner Helwig)

Irgendwo hab ich einmal gelesen, ein Besuch des Pílion wäre unvollständig, wenn man nicht Makrinítsa gesehen hätte. Tatsächlich war ich in der Vergangenheit bei jedem Pílion-Aufenthalt dort. Weil das letzte Mal bereits elf Jahre her ist und damals neblig-regnerisches Wetter herrschte, steht dieser außergewöhnliche Ort in diesem Jahr erneut auf meiner Wunschliste.

Man braucht Wiederholungen, damit etwas nicht nur einmal geschieht, sondern zweimal, dreimal oder noch öfter, dadurch wächst seine Bedeutung, und es bleibt für immer in uns.
(Ioanna Karystiani)

Von Vólos aus fahre ich zunächst die ausgeschilderte Route, zweige am Stadtrand aber auf die alte Nebenstrecke ab. Dieser Weg bietet bereits auf halber Höhe herrliche Ausblicke, verlangt auf der zweiten Hälfte dem kleinen Motor jedoch alles ab. Die meisten Serpentinen können nur im ersten Gang gemeistert werden. Wer Anfahren am Berg nicht sicher beherrscht, sollte sich an dieser Stelle ernsthaft überlegen, ob er nicht lieber ein Taxi nimmt.

Wie viele andere Bergdörfer im Pílion zieht sich Makrinítsa steil am Hang hinauf, sodass es im Ort keine Straßen, sondern nur Treppen und gepflasterte Pfade gibt. Autos bleiben also vor dem Ort stehen und alle Gäste müssen den einzigen Fußweg ins Zentrum nehmen. Verständlich, dass dieser sich zu einer wahren Souvenirmeile entwickelt hat, doch ist glücklicherweise sehr wenig Ramsch im Angebot. Es werden vorwiegend lokale Spezialitäten wie Honig, Tsípouro, eingelegte Früchte und getrocknete Bergkräuter angeboten. Zwischen den Läden hat man immer wieder eine wundervolle Aussicht auf die Stadt Vólos, die sich 700 Meter tiefer vor einem erstreckt.

Dann ereiche ich den Dorfplatz, der sich kaum verändert hat, seit ich ihn vor 35 Jahren zum ersten Mal erblickt habe. Zum Glück - er ist einfach perfekt. Der große Platz, von einer Handvoll riesiger Platanen mit reichlich Schatten versorgt, ist ein Schmuckstück. Der alte Dorfbrunnen und die kleine Ágios Ioánnis-Kirche komplettieren das einzigartige Ensemble. Im Inneren des schmucklosen Kirchleins läuft ein Endlosband mit orthodoxem Mönchsgesang, der leise nach außen schallt und dem Platz einen unaufdringlichen Klangteppich verleiht. Später will ich hier eine Pause machen, zunächst jedoch den Ort ein wenig mehr erkunden.

Es ist inzwischen "High Noon", der Gang die steilen Gassen empor ist entsprechend schweißtreibend. Weiter oben befindet sich die Mariä Himmelfahrt geweihte Hauptkirche. Durch einen Torbogen, der sich am etwas abseits gebauten Glockenturm anschließt, betritt man den stillen, von großen Bäumen umgebenen Kirchplatz. Die Kirche ist leider verschlossen, doch die Dame, die sich gerade um die Blumenbeete kümmert, bietet mir herzlich an, sie für mich aufzuschließen.

Die Augen benötigen einen Augenblick, sich an das schummerige Licht im Inneren zu gewöhnen, aber es lohnt sich. Ich entdecke eine äußerst schöne hölzerne Ikonostase aus dem 17. Jahrhundert mit wertvollen, teilweise mit Gold- und Silberblech belegten alten Ikonen, die hervorragend erhalten sind. Offiziell ist Fotografieren verboten, doch angesichts meines sichtbaren Bedauerns erlaubt mir die Küsterin eine einzige Aufnahme, "Only one! Without flash!". Als ich ihr das Ergebnis auf dem Kameradisplay zeige ist sie sehr beeindruckt, was die moderne Technik trotz des Halbdunkels zu leisten vermag. Wir verabschieden uns herzlich.

Als ich den Dorfplatz wieder erreiche ist die richtige Zeit für einen Imbiss gekommen. Ein Mýthos gleicht den Flüssigkeitsverlust des Vormittags aus, ein Tsatsíki hilft gegen den Hunger. Vor elf Jahren haben Jana und ich uns in dieser Taverne am knisternden Kaminfeuer und heißen Getränken erfreut - heute bin ich für den Schatten und den leichten Wind dankbar. Von meinem Platz habe ich jenen legendären Panoramablick, der Makrinítsa völlig zu Recht den Beinamen "Balkon des Pílion" eingebracht hat. Auch wenn es sich um eines der touristischen Zentren des Pílion handelt, ist es einfach ein Stückchen Erde, das zum Verweilen einlädt - ich mag hier gar nicht mehr aufstehen.

Leben ist eine Balance zwischen Festhalten und Gehen lassen.
(Dschalal ad-Din Rumi, 1207-1273)

Schließlich mache ich mich zum letzten Ziel der diesjährigen Reise auf: dem Pílion-Gipfel. Von Makrinítsa aus nehme ich die gut ausgebaute Straße in Richtung Chánia, wo ein asphaltierter Weg in die Gipfelregion führt. Wenn man an einem solchen Tag wie heute, unter der intensiven Frühsommersonne durch die dichtgrüne Vegetation fährt, mag man kaum glauben, dass vier bis sechs Meter Schneehöhe hier im Winter normal sind. Wären nicht die Schneestangen am Straßenrand und schimmerten nicht Skilifte gelegentlich durch die Bäume, hielte man dies für unmöglich. Aber irgendwoher muss der ganzjährige Wasserreichtum der Region ja stammen...

Nach einigen Kilometern häufen sich die Hinweisschilder, dass man sich auf militärischem Sperrgebiet befindet. Ich hatte so etwas schon erwartet. Auch wenn die Straße zunächst nicht gesperrt ist, weiß ich aus Erfahrung, dass der eigentliche Gipfel dann nicht zugänglich sein wird. Ich bin also nicht besonders enttäuscht, mit dem nur 90 Meter niedrigeren Aidonáki, dem mit 1537 Metern vierthöchsten Gipfel des Pílion-Massivs, vorlieb nehmen zu müssen. Wenige Minuten zuvor hatte ich eine Abzweigung gesehen, die dort hinauf führt.

Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen.
(Hermann Hesse)

Auf diesem befindet sich der "Pýrgos OTE", was man auf Deutsch mit "Turm Telekom" übersetzen könnte. Es handelt sich um ein monströses Betonbauwerk, das ich schon seit Tagen von überall her gesehen habe, umgeben von einem ganzen Wald großer Antennen. Einige Kilometer nördlich lassen sich die Radaranlagen auf dem Hauptgipfel erkennen. Wie es oft bei Berggipfeln ist: Das Schönste daran ist der Weg hinauf. Ich genieße eine Zeit lang die herrliche Bergluft, die klaren Farben und den Blick über die Landschaft, dann trete ich die Rückfahrt an. Wie an den Tagen zuvor, verbringe ich den Rest des Nachmittages in Kalá Nerá am Strand und verabschiede mich ausgiebig vom Meer.

Bevor ich abends aufbreche, treffe ich Dimítris, der meinen Wunsch nach einer Flasche seines Tsípouros nicht vergessen hat. Einen ganzen Liter hat er mir abgefüllt. Auf meine Frage, was ich ihm schuldig bin, winkt er nur verächtlich ab und murmelt etwas wie "ist schon gut...". Ich freue mich außerordentlich über dieses unerwartete Geschenk.

Das Abendessen nehme ich heute noch einmal bei Páris ein. Anlässlich meines letzten Tages gibt es gleich zwei Tsípouro, denen ich ein großes Mýthos vom Fass folgen lasse. Ich wähle Gígantes (in Tomatensauce gegarte weiße Riesenbohnen) und Lammkoteletts vom Grill mit Pommes. Sehr nett finde ich seine Bedenken, dass bei dieser Kombination die Portionsgröße der Bohnen mein Fassungsvermögen überschreiten könnte. Er bietet mir an, lediglich eine halbe Portion zu servieren und natürlich auch nur zu berechnen. Der Vorschlag erweist sich als absolut begründet!

Ich sitze unmittelbar am Wasser. Die Taverne ist nach dem Ende des Pfingstfestes fast leer, also belästige ich niemanden, als ich bei einem weiteren Mýthos zu einer Abschiedszigarre greife. Ich genieße den wunderbar milden, ruhigen Abend und bedauere das Ende des Urlaubs noch mehr als in den Jahren zuvor.

Als Nachtisch gibt es Joghurt mit Kirschen in Sirup, eine Rechnung über 20 € und ein kleines Abschiedsgeschenk für Jana. Ich hatte am ersten Abend kurz unsere früheren Besuche erwähnt, doch überrascht es mich enorm, dass Chrístos sich daran erinnert. Genau das macht das Besondere an dieser Taverne aus: Sie hat vielleicht nicht die beste Küche des Ortes, aber die herzliche Art und Weise mit der sich der Wirt um seine Gäste kümmert, zeichnet sie vor allen anderen aus.

So endet mein Aufenthalt in Kalá Nerá und ich nehme mir vor, bis zum nächsten Besuch nicht wieder elf Jahre vergehen zu lassen. Es gibt Orte mit besseren Restaurants, es gibt Orte mit schickeren Hotels, es gibt Orte mit feineren Stränden, aber es gibt wenige Orte, an denen ich mich so wohl fühle.

Du bist ein Ort, wo ich den Herzschlag der Erde vernehme. Hier bin ich daheim.
(Erhart Kästner)

Ágios Geórgios:


Kloster Taxiarchón:


Makrinítsa:


Mt. Aidonáki / Pílion:


Kalá Nerá: