Es war eine völlig frische und saubere und junge Luft, als ob noch kein Lebewesen in ihr geatmet
habe.
(John Ronald R. Tolkien)
Das Wetter am Morgen löst das Versprechen des Vorabends ein. Der Himmel ist tiefblau und das Licht so klar, dass ich keine Lust verspüre, im gedämpften Licht des Frühstücksraums Platz zu nehmen. Stattdessen lasse ich mir einen Obstkorb zusammenstellen und fahre sofort los, erneut hoch in die Felsen. Nach einem kurzen Fotoabstecher zum Kloster Megálo Metéoro, dem größten innerhalb Metéoras, nehme ich mein Frühstück mit Blick auf Agía Triáda zu mir. Diese Stelle ist mein Lieblingsaussichtspunkt hier. Es ist herrlich ruhig, da die Klöster erst ab 9 Uhr für Besucher öffnen und nur wenige ganz ungeduldige schon auf den Beinen sind. Ich genieße intensiv die Kombination aus frischer Morgenluft und warmer Sonne bevor ich meine Fahrt fortsetze.
Auf dem Weg nach Vólos, meinem nächsten Ziel, muss ich die thessalische Ebene durchqueren. Von früheren Reisen erinnere ich mich daran, dass die Strecke langweilig ist, aber dass sie so extrem langweilig ist... Nun, bekanntlich schönt die Erinnerung. Abgesehen von der Umgehungsstraße um Lárissa sind es 70 Kilometer schnurgerade Strecke durch die sehr fruchtbare, brettflache Ebene. Alleine die Tatsache, dass man alle paar Kilometer einen Mähdrescher überholen muss, erfordert etwas Aufmerksamkeit und erinnert gleichzeitig daran, sich in der Kornkammer Griechenlands zu befinden.
Gegen 11 Uhr erreiche ich Vólos. Die Parkplatzsuche in der Innenstadt ist erwartungsgemäß schwierig, aber schließlich finde ich eine legal nutzbare Lücke beim Fischmarkt am Rande des Hafens. Unter den Arkaden der Markthalle gibt es ein gut besuchtes Kafeníon, in dem ich mich spontan zu einem Kafé frappé niederlasse. Neben mir erfüllen vier Männer alle Klischees von Griechen bei der Arbeit: Man sitzt bei Kaffee zusammen, diskutiert lebhaft und alle fünf Minuten greift einer nach seinem Walkie-Talkie, um im gebieterischen Ton offensichtlich notwendige Geschäftsentscheidungen zu treffen. Worum es genau geht, bleibt mir leider verborgen. Es ist der richtige Ort, um die ideale Tour für den anstehenden Stadtrundgang zu planen.
Vólos eine hässliche Stadt zu nennen, wäre zu einfach. Sie hat einfach nur nichts
Schönes. Nach der furchtbaren Zerstörung durch ein Erdbeben im Jahre 1955 wurde die Stadt schnell und
gesichtslos wieder aufgebaut. Ein anonymes Schachbrettmuster von Straßen unterteilt das Zentrum in eine
unüberschaubare Anzahl von Rechtecken.
Dennoch hat die Stadt etwas Faszinierendes. Seit mythologischer
Zeit - damals unter dem Namen Iolkós bekannt - ist der Hafen ihr pulsierendes Herz. Bereits die Argonauten
stachen von hier aus in See um das Goldene Vlies zu erlangen. Heute sind die ausgedehnten Industriegebiete, die sich
in alle Richtungen erstrecken, die wirtschaftliche Grundlage. Einnahmen durch Tourismus spielen hingegen keine Rolle.
Nur wenige Meter von meinem Sitzplatz entfernt befindet sich der Bahnhof. Hier kaufe ich zunächst ein Ticket für die historische Pílion-Schmalspurbahn, mit der ich am Wochenende eine Fahrt unternehmen möchte. Ich tue dies keine Minute zu früh: Für Samstag ist der Zug bereits ausgebucht, aber für Sonntag kann ich einen Platz reservieren. Auf einem zugewucherten Abstellgleis entdecke ich die Überreste einer Original-Dampflok für diese Strecke.
Gegenüber dem Bahnhof liegt das Palaiá-Viertel, sozusagen die Altstadt. Auch hier hat das Erdbeben nichts Sehenswertes verschont. Es ist ein reines Wohngebiet, lediglich im Süden gibt es ein paar Geschäfte und einen kleinen Bereich Fußgängerzone, in dem sich zahlreiche einladende Tavernen angesiedelt haben. Falls der Plan für mein Mittagessen fehlschlägt, werde ich hier mit Sicherheit einen guten Trost finden.
Der Plan für mein Mittagessen hat eine Vorgeschichte: In der bereits erwähnten TV-Reportage wurde ein sehr traditionelles Tsipourádiko vorgestellt. Das ist - analog einer Ouzérie - ein Lokal, in dem man eigentlich nur die entsprechende Spirituose bestellt. Da Griechen jedoch niemals Alkohol trinken, ohne dazu etwas zu essen, bekommt man zum Schnaps ein "Häppchen". Im Laufe der Zeit haben die Häppchen mehr und mehr an Bedeutung gewonnen und sich manche Lokale zu Geheimtipps guten Essens entwickelt.
Ungefähr 20 Gehminuten vom Zentrum entfernt liegt im Stadtteil Néa Ionía das Tsipourádiko Demíris. Hierher verirren sich ausländische Touristen offensichtlich extrem selten, denn als ich dort Platz nehme scheint es mir, dass ich ungläubige bis mitleidige Blicke ernte, getreu dem Motto: Der Arme hat sich bestimmt verlaufen. Die Blicke wandeln sich zunächst in Staunen, dann in Begeisterung, als ich von dem Hintergrund meines Besuchs erzähle und einen entsprechenden Screenshot aus der TV-Reportage überreiche. Schließlich erinnert man sich an den eigentlichen Grund meines Kommens und fragt nach meinen Vorlieben: Fisch, Fleisch oder Gemüse? Ich wähle Fisch.
Die zu Nüchternheit und Pragmatismus neigende Innenausstattung wird mit allerlei Mittelmeercharme kompensiert.
Man erwartet nichts und bekommt alles.
(Dennis Freischlad)
Dass ich gleich zwei Portionsfläschchen Tsípouro erhalte, führe ich auf die besonderen Umstände des Empfangs zurück - zwei verschiedene Häppchen dazu entsprechen meiner Erwartung. Es sind eine Portion exquisiter Fischrogencreme (Taramosaláta) sowie eine Platte mit gesalzenen Fischfilets in einer leicht scharfen Tomaten-Chili-Marinade. Kurz nachdem ich die ersten Bissen genommen habe wird mir eine weitere Platte mit zwei gebratenen Fischen serviert. Mein Entzücken steigert sich erneut, als mir später eine vierte Platte mit erstklassigen Miesmuscheln gereicht wird - erst jetzt weist der Chef darauf hin, dies sei der Bonus für den "special guest". Dankbar nehme ich es zur Kenntnis und während ich mich allmählich durch die vielen Leckereien arbeite, überlege ich, was mich der Spaß letztendlich kosten wird.
Gründlich gesättigt und sehr zufrieden frage ich schließlich nach der Rechnung. "Endáxi" und eine ablehnende Geste ist jedoch alles was ich erhalte. Ich kenne zwar die Bedeutung des Begriffs "εντάξει" (dt: "OK", "in Ordnung"), aber vielleicht hab ich mich ja verhört. Ich versuche es also noch einmal und ernte das gleiche Resultat. Unglaublich! Die Geschichte mit der TV-Reportage hat mich gleich zum "Freund des Hauses" erhoben, sodass mir die gesamte Mahlzeit als Geschenk gelassen wird. Da ist sie wieder: Die echte griechische Gastfreundschaft in ihrer unverminderten Ursprünglichkeit. Wer dabei trotz 27°C keine Gänsehaut bekommt, dem ist nicht zu helfen. Ich bin begeistert!
Wenn man alles aufschreibt, was man besitzt, hat man am Ende des Lebens eine Liste.
Wenn man alles
aufschreibt, was man erlebt, dann hat man eine Geschichte.
(Jochen Schweizer)
Um Essen und Eindrücke zu verdauen spaziere ich zunächst durch Néa Ionía bis zur großen Evangelistria-Kirche und anschließend zurück in die Innenstadt. Die zentral gelegene Basilika Agíos Nikoláos sowie der Hafen gehören zu den wenigen sehenswerten Objekten der Stadt. Die Lufttemperatur verbietet weitere körperliche Betätigung, weshalb ich eine Café-Bar im Stadtpark an der Promenade beehre und der Hitze mit einer langen Pause und einem Kafé frappé begegne.
Wohl entspannt eröffne ich die letzte Etappe des Tages: Die Fahrt auf der Küstenstraße in Richtung Süden ist mit vielen Erinnerungen verbunden und führt mich bis Kalá Nerá, wo ich gegen 18 Uhr eintreffe. Der Anblick der Bucht, der sich unvermittelt nach eine scharfen Kurve eröffnet, erfüllt mich mit Freude wie eh und je. Dann fahre ich zum Hotel Rodia, in dem ich für die letzten sieben Nächte reserviert habe. Der Besitzer, Dimítris Anagnóstou, ist unterwegs, sodass sein Sohn mir mein Zimmer mit Meerblick übergibt.
Die Auswahl des Hotels war nicht zufällig. Wer meinen Reisebericht von 1982 liest, findet dort ein Foto von Dimítri, der unserer damaligen Reisegruppe 14 Tage hintereinander in der Taverne seiner Eltern das Abendessen serviert hat. Das Hotel Rodia liegt unmittelbar neben dieser Taverne und der Name des Besitzers, sowie dessen Aussehen und Alter legten die Vermutung nahe, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt. Die Chance auf ein Wiedersehen nach 35 Jahren wollte ich mir natürlich nicht entgehen lassen.
An der Uferpromenade gibt es zahlreiche Tavernen, aber nur in Dreien kann man direkt am Meer sitzen. Eine davon ist das "O Páris", welches ich von früheren Reisen kenne. Hier kehre ich zum Abendessen ein. Chrístos, das Gesicht der Taverne (welche nach seinem Bruder Páris benannt ist, der die Küche leitet) erkenne ich sofort wieder, obwohl die vergangenen elf Jahre deutliche Spuren hinterlassen haben. Das liegt vermutlich nicht zuletzt daran, dass er nach wie vor fast alle Gäste persönlich mit einem Tsípouro begrüßt und mehr als gelegentlich einen mittrinkt. Wie dem auch sei: Seine Art, dem Gast das Gefühl eines herzlichen Willkommens zu geben, ist einzigartig. Mit jedem hält er ein kleines Schwätzchen und selbst wenn der ganze Laden brechend voll ist, weiß er Tage später noch immer, wovon man erzählt hat.
Auch der Teller mit den Appetithäppchen wird wie damals serviert. Zwei eingelegte Fischchen, ein Klecks Taramosaláta, zwei Oliven und eine gegrillte marinierte Paprika sind ein gute Basis für den Tsípouro. Danach nehme ich vier Souvláki-Spieße mit Pommes und ein großes Mýthos vom Fass. Ich genieße das Essen und den Platz - ich liebe es, so nah am Meer zu sitzen, dass man die Olivenkerne ins Wasser spucken kann. Außerdem ist die Luft heute so klar, dass man rund um den pagasitischen Golf mehrere Ebenen von Bergen hintereinander erkennt. Noch nie kam mir der Golf so klein vor, er wirkt eher wie ein Bergsee. Nach dem Essen gibt es ein Stück sirupgetränkten Kuchen und mit der Rechnung über 10 € einen weiteren Tsípouro.
Anschließend setzte ich mich etwas abseits des Trubels ans Meer. Zwei Meter vor mir plätschern die Wellen ans Ufer und über mir funkeln die Sterne des Großen Wagens. Der Tag war wirklich außergewöhnlich! Ich kehre ins Hotel zurück, wo ich auf Dimítris treffe. Meine Vermutung, dass er unser ehemaliger Kellner ist, bestätigt sich schnell. Da er eine deutsche Frau hat und inzwischen sehr gut Deutsch spricht, ist dem Austausch alter Erinnerungen kein Hindernis gesetzt. Vor der Nacht muss ich noch seinen Tsípouro kosten. Wie damals brennt er ihn selber "nach altem Familienrezept" und er legt Wert darauf, es sei keine Massenware wie bei Páris. Der Tresterbrand ist wirklich erstklassig und ich kündige an, dass ich am Ende des Urlaubs eine Flasche davon erwerben möchte.
"Fünf Tsípouro an einem Tag und keinen einzigen bezahlt!" ist mein letzter Gedanke, bevor mir die Augen zufallen.
Dieses Feuerwasser, aus den Rückständen der Traubenkelter gewonnen, war [...] sehr begehrt um
diese Zeit.
(Werner Helwig)