Heute verabschiede ich mich von Límni, was ein bisschen schwer fällt, da mir der Ort ausnehmend gut gefallen hat. Ich habe in den vergangenen Tagen einige Orte kennengelernt und empfinde Límni als den mit Abstand Schönsten. Ein Glückstreffer, gerade hier mein Quartier aufgeschlagen zu haben. Die letzten beiden Nächte beabsichtige ich in der Inselhauptstadt Chalkída zu verbringen.
Der Weg dorthin führt mich zunächst wieder nach Prokópi, wo heute der Jahrestag des heiligen Ioannis gefeiert wird, was nicht zu übersehen ist. Die Hauptstraße und die umliegenden Felder sind in einen riesigen Parkplatz verwandelt worden, der Durchgangsverkehr wird über eine provisorische Schotterpiste umgeleitet. Das ist überhaupt kein Problem, da es so gut wie keinen Durchgangsverkehr gibt. Wer heute herkommt, will nicht durchfahren, sondern in den Ort hinein.
Als erstes fallen mir die Reisebusse auf. Dutzende davon kommen aus Rumänien, aber auch alle anderen Länder mit orthodoxer Bevölkerung sind vertreten. Zur Ortsmitte hin geht der Parkbereich fließend in einen Jahrmarkt über. Dieser hat mit dem eigentlichen Ereignis, das hier begangen wird, nicht das Geringste zu tun. Hier wird alles verkauft, von der Socke bis zur Armbanduhr, von der Teigschüssel über T-Shirts bis zum Taschenradio und die Spielzeug-Maschinengewehre liegen direkt neben den Heiligenbildern. Jede in Griechenland vertretene Minderheit versucht, ein paar Euro zu verdienen: Roma, Russen, Schwarzafrikaner, Phillipinos, Pakistani, sie alle haben sich eingefunden. An einem Stand entdecke ich sogar einen Popen, der Modeschmuck-Armbänder verkauft.
Nachdem die Menschen ihre Sprache verändert hatten, die sie in jenen Tagen voller Wunder von den
Elben gelernt, gab es keine Worte mehr, die seine Verblüffung beschreiben konnten.
(John Ronald R. Tolkien)
Das Festamt wird per Lautsprecher dröhnend nach draußen übertragen. Je näher man der Kirche kommt, desto unerträglicher wird die Lautstärke. Ebenso der Geruch, da sich der Qualm der zahlreichen Mais- und Souvláki-Grillstände zunehmend mit Weihrauch vermischt. Kranke und Gebrechliche humpeln auf Krücken heran, andere werden im Rollstuhl geschoben. Eine Frau kriecht auf Händen und Knien die Straße zur Kirche entlang, vor der sich die Gläubigen in lange Warteschlangen einreihen. Dass die oberste Kirchenprominenz ebenfalls vertreten ist, verraten nicht nur die zahlreichen Polizisten, sondern auch die Nummernschilder der Wagen, die es bis unmittelbar vor die Kirche geschafft haben. Angesichts der Menschenmassen erweist sich meine Entscheidung, die Kirche und die Reliquie schon vorgestern besichtigt zu haben, als goldrichtig.
Auf der Weiterfahrt kommen mir lange Zeit zahlreiche Pilger entgegen. 7,5 Kilometer vor der Stadt ist eine Erste-Hilfe-Station des Roten Kreuzes aufgebaut, in der fußwunde Wanderer versorgt werden. Noch bis zur doppelten Entfernung begegnen mir regelmäßig Pilgergruppen, teilweise mit Kleinkind auf dem Arm oder im Buggy vor sich her schiebend, unkoordiniert auf beiden Seiten der kurvenreichen Bergstraße. Bei extrem viel Gegenverkehr führt das mehrfach zu lebensgefährlichen Situationen.
Mir gelingt es jedoch, das Gebiet heil und unversehrt hinter mir zu lassen und ich erreiche bald Chalkída. Zunächst lasse ich die Inselhauptstadt unbeachtet und fahre weitere 20 Kilometer bis Erétria. Hier gibt es die einzigen nennenswerten archäologischen Ausgrabungen der Insel zu sehen. Zur Einstimmung beginne ich mit dem dortigen Museum. In seinen beiden Sälen finden sich einige sehr schöne Exponate wie die Statue von Theseus und Antiope oder das urnentragende Pferd, dessen genauer Funktionszweck unter den Forschern bis heute für Diskussionen sorgt. Im Vorgarten gefallen mir die riesigen Opferschalen besonders gut. Ihre Grundform wird bei den Trinkbrunnen in den Bergen bis heute unverändert beibehalten.
Im Eintritt enthalten ist ein Faltblatt, welches einen durch die Ausgrabungsstellen führt, die über das gesamte Stadtgebiet verstreut sind. Da die Mauer- und Torreste der antiken Stadt nur dem ausgemachten Fachmann etwas sagen, ist es umso wichtiger, entsprechende Informationen zu bekommen. Höhepunkt der Ausgrabungen ist das erst vor einigen Jahren entdeckte Mosaikenhaus, das mit einem doppelten Metallzaun wie Fort Knox gesichert ist. Die Tore sind verschlossen und mir fällt ein, dass die Schlüssel im Museum ausleihbar sind. Das bedeutet, unter der Mittagssonne zurück zum Museum zu laufen, den Schlüssel zu holen und wieder her zu kommen. Hier muss Kultur wahrlich hart erarbeitet werden! Aber es lohnt sich: Die in hervorragendem Zustand erhaltenen Naturkiesel-Mosaiken, die unter einem Schutzbau zu sehen sind, zeigen ornamentale Motive und figürliche Darstellungen mit meist mythologischen Themen mit Gorgonen oder Greif-ähnlichen Wesen.
Was mich wirklich interessiert, ist nicht das antike Griechenland an sich. Mich interessiert viel mehr,
was von dieser Vergangenheit bis heute überlebt hat.
(Takis Theodoropoulos)
Soviel Kultur macht hungrig, aber das ist kein Problem, denn vom Hafen bis zur Promenade, die direkt am Strand entlangführt, ist die Auswahl an Tavernen außerordentlich groß. Da kommt ein Brizóla Choiríni gerade recht. Das tellergroße Holzfäller-Steak mit Pommes und einem Mythos-Bier bringt verbrauchte Energie sofort zurück. Es ist heiß und schwül und leider ziehen von Nordwesten erneut dunkle Wolken auf, das riecht schon wieder nach Gewitter. Bis es soweit ist, nutze ich die Zeit, um eine nahe vor der Stadt liegende kleine Insel zu besichtigen, die über einen Damm und eine Brücke bequem erreichbar ist.
Was ich hier vorfinde, ist unfassbar. Die "Island of Dreams" genannte Insel, ein Privatbesitz, ist zum großen Teil von einem alten Pinienwald bedeckt. Im Schatten der Bäume gibt es eine Ferienanlage, die zu ihrer Zeit wunderschön gewesen sein muss. Es fehlt an nichts: Pavillons, ein Hotel, eine Strandbar, Spiel- und Sportanlagen, eine Disco, ein großes Restaurant mit stufigen Terrassen direkt am Meer. Und dies alles bietet jetzt, nach Jahren des Leerstands, ein trauriges, ein apokalyptisches Bild. Mir ist schleierhaft, wie man es sich leisten kann, eine so schöne Anlage dermaßen dem Verfall zu überlassen. Für mich ein Beispiel, dass die Griechen an ihrem wirtschaftlichen Niedergang nicht ganz unschuldig sind - in anderen Sonnenländern wäre so etwas undenkbar.
Immerhin: Das Gewitter ist bisher vorbei gezogen und es wird vorübergehend etwas freundlicher, wenn auch die tropische Schwüle unverändert bleibt. Da ist eine ausgiebige Pause mit einem Kafé frappé unverzichtbar. Währenddessen kündigt sich drohend die nächste Gewitterfront an und ich bezweifele, dass man das appetitlich rotierende Spanferkel heute Abend unter freiem Himmel genießen kann. Ich schaffe es eben noch zurück bis zum Auto, bevor es losgeht.
Als ich zurück nach Chalkída fahre, kommt mir das Gewitter genau entgegen. Nachtschwarze Wolken türmen sich auf, dann fallen die ersten Tropfen, die sich in Sekunden zum Wolkenbruch steigern und von Sturmböen fast horizontal über die Straße gepeitscht werden. Diese steht in kürzester Zeit so hoch unter Wasser, dass Fahren nur noch im Schritttempo möglich ist. Aber das Timing ist ausgezeichnet: Kaum habe ich Chalkída erreicht und einen Parkplatz in der Innenstadt gefunden, geht das Unwetter vorüber.
Da die bisherigen Unterkünfte durchweg überraschend preiswert waren, ist meine Urlaubskasse noch gut gefüllt und so habe ich kein schlechtes Gewissen, mir für die letzten beiden Nächte etwas Luxus zu gönnen. Deswegen quartiere ich mich im "Hotel Paliria" ein, es befindet sich in bester Lage direkt an der Uferpromenade. Dabei ist es mit 60 € pro Nacht incl. Frühstück für ein Stadthotel dieser Kategorie alles andere als überteuert.
Am Abend suche ich eine Grillstube nahe der Alten Brücke auf. Der Wirt hat schnell herausgefunden, dass ich Deutscher bin und wir kommen ins Gespräch. Er hat als Jugendlicher, vor 37 Jahren, drei Jahre in Deutschland gelebt, kann die Sprache aber immer noch bemerkenswert gut. Er empfiehlt mir Biftéki, von denen er zwei Varianten vorrätig hat, eine ist deutlich orientalisch angehaucht, der Zimt schmeckt subtil, aber doch präsent durch. Dazu gibt es Pommes und ein Kaiser-Bier, eine Vorspeise lasse ich eingedenk des üppigen Mittagessens ausfallen. Beim Essen leistet mir der Wirt Gesellschaft und wir unterhalten uns über die griechischen Lieblingsthemen Sport und Politik, was zur Folge hat, dass das Bier auf seine Rechnung geht. So bleiben mir lediglich 7 € für das Hauptgericht. Bis zur Bettschwere verbringe ich die Zeit mit gemütlichem Bummeln über die gut frequentierte abendliche Promenade.