Wieder starte ich mit einem gemütlichen Frühstück direkt am Meer. Die Sonne scheint, die Luft ist herrlich frisch und zu meinen Füßen schwimmt ein Schwarm forellengroßer Fische gemächlich auf und ab. Mein heutiges Tagesziel ist der äußerste Nordwesten der Insel.
Genau wie am Vortag beginne ich mit einem Klosterbesuch. Und genau wie am Vortag zweigt von der Küstenstraße der Weg zum Kloster in die Berge ab. Damit hören die Analogien bereits auf. Die schmale Straße wiegt einen nicht lange in falscher Sicherheit, sondern zeigt einem vom ersten Meter an, was einen erwartet. Es geht extrem steil aufwärts, geschätzt 25% Steigung im Durchschnitt. Mein kleiner, bergunfreudiger Franzose schafft die Strecke bis auf wenige Abschnitte nur im ersten Gang. Nach einigen Kilometern wird der Anstieg moderater, dafür endet der Asphalt und es geht auf Schotter weiter in die dicht bewaldeten Berge hinein.
Schließlich taucht es auf: Wie ein Juwel in der grünen Hölle liegt mir am gegenüberliegenden Berghang das Kloster Ágios Georgios Ilion zu Füßen. Als ich die Anlage erreiche, werde ich von einem Wachhund empfangen oder besser gesagt: Das was mal ein Wachhund werden soll. Der niedliche Welpe begrüßt mich heftig schwanzwedelnd und freut sich überschwänglich über ein paar Streicheleinheiten. Obwohl es kurz nach 10 Uhr ist, sind die Türen noch geschlossen, deshalb beginne ich mit einer vorgelagerten Kapelle, die zugänglich ist.
Die Kapelle ist eine Überraschung: Keine Fresken bedecken die Wände, dafür ist der gesamte Fußboden mit edlen Teppichen ausgelegt. Die Sonne strahlt durch die aus buntem Glas gestalteten Kuppelfenster und flutet den Innenraum mit wunderbar farbigem Licht. So eine schlicht-schöne Kirche habe ich im orthodoxen Umfeld bisher nicht gesehen. Gerade als ich mit der Besichtigung fertig bin, öffnen sich die Türen zum Hauptgebäude.
Die Gänge im Kloster sind eng und verwinkelt und so voll gepflanzt, dass kaum ein Zentimeter Platz frei bleibt. Die vielen Blüten verströmen einen Duft, der mich an eine Parfümerie denken lässt. Überflüssig zu erwähnen, dass dieses Kloster von Nonnen bewirtschaftet wird. Auf die vielen Blumen angesprochen erklärt mir eine Schwester, der heilige Georg hätte nicht nur Drachen getötet, sondern auch Blumen geliebt. Ich sehe das eher so, dass sich die Schwestern hier ein kleines Paradies als Vorgeschmack auf das spätere schaffen wollen.
Und Glück, das ist eine dieser ewigen Wahrheiten, ist weitaus mehr von den äußeren
Lebensumständen unabhängig, als man sich das gerne eingestehen will.
(Michael Wörn)
Die alte Klosterkirche ist ein ausgesprochener Kontrast zum Hof. Ihr Inneres ist so extrem dunkel, dass die meisterhaft holzgeschnitzte Altarwand kaum zu erkennen ist. Bilder wären nur mit Blitz möglich, aber dies wird nicht gewünscht. An einer Ecke des Hofs ist eine Terrasse unter einer Pergola, wo den Besuchern - ich bin inzwischen nicht mehr der Einzige - frisch gebrühter, heißer süßer Mokka, kaltes Wasser und frisches Gebäck aufgetischt werden. Die Terrasse öffnet sich zur Seeseite und lässt einen leichten erfrischenden Bergwind hinein. Eine weiße Taube flattert zum Glockenturm hinauf - wenn es nicht real wäre, wäre es schon kitschig.
Auf dem Rückweg macht das Auto nach kurzer Wegstrecke ein seltsames Geräusch: "flapp, flapp, flapp...". Zuerst denke ich, dass sich ein Zweig in der Felge verfangen haben könnte, dann bemerke ich, dass der Wagen deutlich nach links zieht. Oh, oh - der Super-Gau: Ein Plattfuss am Vorderreifen auf einem schmalen Schotterweg mit extremem Gefälle. Was tun?
An einen Reifenwechsel ist in dieser Situation nicht zu denken. Ich entscheide mich, in Schrittgeschwindigkeit bis zur Küstenstraße hinunter zu rollen und dort den Reifen zu wechseln. Der Plan funktioniert. Und Glück im Unglück: Im Kofferraum finde ich ein nagelneues, voll aufgepumptes Reserverad sowie ein vollständiges Werkzeugset in der ungeöffneten Originalverpackung. Ein Loblied auf seriöse Autovermieter! Da ist der Reifenwechsel in der hoch stehenden Mittagssonne beinahe ein Vergnügen.
Doch nach dem allen lächelst du sorglos
Und findest deine unsterbliche Stunde wieder
(Odysseas Elytis)
Nach diesem Schrecken kann ich meine Fahrt nach Loutrá Edipsoú fortsetzen und gönne mir an der dortigen Promenade zuerst einmal einen Kafé frappé. Hier sitzt man ausgezeichnet, im Schatten von riesigen Eukalyptusbäumen direkt gegenüber der Anlegestelle, wo man mit jeder Ankunft einer Fähre ein kurzweiliges Unterhaltungsprogramm geboten bekommt.
Loutrá Edipsoú ist ein seit der Antike bekanntes Thermalbad und wird deshalb in Reiseführern oft das "Baden-Baden Euböas" genannt. Ich finde die Bezeichnung unpassend. Ja sicher, einige Straßen sind breiter, einige Hotels nobler, aber alles in allem ist die Stadt genauso wenig mondän, wie alle anderen griechischen Städte und einiges, was früher vielleicht mal chic war, hat die besten Zeiten deutlich hinter sich. Und öffentlich zugängliche Badeanlagen oder wenigstens Trinkbrunnen suche ich vergeblich.
Nach einem Stadtbummel entschließe ich mich, auf der Suche nach einem einladenden Strand weiter nach Westen zu fahren. Die Suche erweist sich schwieriger als erwartet. Die weitaus meisten Küstenabschnitte sind unangenehm steinig und trist, und dort, wo das Ufer sandig ist, ist es schattenlos oder verschmutzt. Ich will schon fast aufgeben, aber dann werde ich schließlich doch fündig. Rund zehn Kilometer von Loutrá Edipsoú entfernt, genau gegenüber der Stadt, finde ich meine Ansprüche erfüllt. Leider ist das Vergnügen nur von kurzer Dauer. Schon bald frischt der Wind sehr stark auf, und ich werde mit Sand und getrockneten Blättern eingepudert, dann ziehen von Norden dichte dunkle Wolken heran. Ich packe meine Sachen zusammen und fahre heim nach Límni.
Auf der Rückfahrt zogen Wolken auf, die rasch wuchsen, dunkle Gebirge mit einem feinem Rand aus
Sonnenlicht, ein böiger Wind kündigte ein Gewitter an, und bald war das Meer wie schäumendes, grünliches Blei.
(Pascal Mercier)
Zunächst sitze ich dort mit B&B (Book & Beer) an der Promenade, dann wird es zunehmend ungemütlich und ich ziehe mich auf meine Loggia zurück. Von hier aus kann ich sehen, wie ein schweres Gewitter über das Festland zieht, es blitzt und donnert kräftig und zeitweise verschwindet das gegenüberliegende Ufer hinter einem dichten Regenvorhang. In Límni bleibt es vorerst trocken, erst spät am Nachmittag verdichten sich auch hier die Wolken und es beginnt zu regnen. Bei einer solchen Witterung verändert sich sofort die Stimmung des Ortes: Stimmen und Geräusche, die sonst immer von der Straße zu hören sind, verstummen und die tief hängenden Wolken wirken bedrückend.
Dann verfärbt sich das Gewässer, die Farben wechseln jede Sekunde, als lösten sie sich
in den leichten Wellen auf.
(Ilías Venésis)
Zum Trost gönne ich mir am Abend ein leckeres Souvláki aus Hühnerfleisch, dazu wieder Tsatsíki und einen Rosé. Dieser ist ganz anders als gestern: Leicht und fruchtig, als wäre er passend zum Huhn gewählt (ich vermute aber eher Zufall). Da die Souvláki pro Spieß berechnet werden, ist das Essen preiswert: Vier Spieße á 1,40 €, ein Tsatsíki für 3,30 €, der halbe Liter Rosé nur 2,00 €, da kommen kaum 11 € zusammen. In der Ferne sehe ich die Blitze bis tief in die Nacht.