Nachdem ich zwei Tage morgens verwöhnt wurde, werde ich heute daran erinnert, wie ein typisch griechisches Hotelfrühstück aussieht. Ich verabschiede mich vom Hafen und fahre zunächst in den Hauptort von Kými hinauf, wo ein Teil der gestern gelöschten Ladung bereits seinen Endabnehmer findet. Dort decke ich mich mit frischem Proviant ein und starte auf einer Route, die ich mit großer Spannung erwarte. Das zentrale Gebirge Évias besteht aus zwei großen Massiven. Wenn ich von meinem aktuellen Standort aus in den Norden der Insel möchte, müsste ich diese auf der Hauptstraße weiträumig im Süden umfahren. Die von mir angepeilte Alternative führt nördlich am Skotiní-Massiv entlang und überquert dann den Pass, der dieses vom Dírfys-Gebirge trennt. Der einzige Haken dabei ist, dass auf dieser Strecke die Straße nicht durchgehend asphaltiert ist.
Das Wetter könnte für diese Tour nicht besser sein: Es weht ein leichter, morgendlich frischer Wind, die Sonne scheint gleißend von einem tintenblauen Himmel. Das erste Teilstück ist eine der der schönsten Bergfahrten aller Zeiten: Die Landschaft ist atemberaubend, vom Straßenrand duften Kamille und Minze und in der extrem klaren Luft beträgt die Farbsättigung 100 Prozent: Fahrspaß pur! Kurz vor Metóchi gibt es einen Aussichtspunkt, der einen weiteren Adrenalinstoß provoziert: Zu meinen Füßen - aber einige hundert Meter tiefer - erstrecken sich die Chiliadóu-Strände. Das Auge folgt über sie hinweg auf vielen Kilometern der Küste und zur Rechten reicht der Blick bis zur 50 Kilometer entfernten Insel Skýros. Eine Aussicht, die man wenigstens einmal im Leben gesehen haben sollte!
Es kamen mir die Tränen, doch der Wind blies von Westen, und sie trockneten sofort.
(Nikos Themelis)
Hinter Metóchi beginnt die "dirty road", eine Schotterpiste, die die Bergflanke steil hinab bis zum Chiliadóu-Strand führt. Ich bin froh, dass ich die Route nicht in umgekehrter Richtung fahre, sonst müsste ich hier den Berg hinauf. Dass mir wenige Tage später schlimmeres bevorsteht, weiß ich zu diesem Zeitpunkt glücklicherweise noch nicht.
Wo das bachdurchflossene Tal ins Meer mündet, befindet sich eine kleine Kapelle. Ansonsten weist der Chiliadóu-Strand nicht gerade viel Infrastruktur auf: Eine Pension, eine Handvoll Tavernen, fünf Badegäste. Leider ist auch dieser Strand kiesig und ich leider weiterhin ohne Badeschlappen. Nichtsdestotrotz ein wundervoller Ort, um eine ausgiebige Pause einzulegen.
Gegen Mittag fahre ich die nun wieder asphaltierte Straße die Berge hoch bis Strópones, einem pittoresken Bergdorf, dem es an keiner typischen Zutat fehlt. Besonders gut gefällt mir der Dorfplatz. Hier befinden sich die Kirche, die Bushaltestelle, zwei Tavernen, von denen eine gleichzeitig als Supermarkt und Postamt dient, das ganze Ensemble überschattet von zwei großen Platanen. Eine von ihnen weist eine Besonderheit auf: Aus ihrem Stamm ragen drei Wasserhähne, die durchaus nicht nur Dekoration sind, sondern genau wie der benachbarte Trinkwasserbrunnen frisches Quellwasser liefern. Wie auch immer das funktioniert...
Die Taverne ist auf Gäste, die in der Mittagszeit einen Imbiss wünschen, offensichtlich nicht vorbereitet. Dennoch ist man gerne bereit, mir aus den vorhandenen Vorräten etwas zu zaubern. Also bestelle ich "fried potatoes". Die gelieferte Portion ist riesig, frisch, heiß und fettig. Zusätzlich bekomme ich ein Fix-Bier und natürlich das obligatorische Brot, welches der Wirt vorher schnell vom Bäcker nebenan besorgen muss.
Der folgende Streckenabschnitt wird erneut richtig bergig und außerordentlich schön. Die Natur grünt und blüht aufs Prächtigste, zahlreiche Bienenstöcke bereichern die Landschaft um zusätzliche Farbtupfen und deren fleißige Arbeiterinnen erfüllen die Luft mit ihrem Summen. Als ich die Passhöhe erreiche, habe ich auf der Nordseite einen herrlichen Blick über Strópones bis hin zur offenen Ägäis, nach Südwesten über die einzige große Ebene der Insel und den nordeuböischen Golf bis hin zum griechischen Festland. Dann geht es wieder hinab und ich erreiche den am Fuß der Berge liegenden Ort Stení Dírfyos, den ich als nächstes Nachtquartier vorgesehen habe.
Stení ist seltsam: Hier befinden sich auffällig viele Cafés und Tavernen, die jedoch fast alle geschlossen sind, ebenso die beiden Hotels. Wenn es etwas mehr Leben geben würde, wäre es ein einladender Ort, mit seinem reißenden Bach, der mitten hindurch fließt und den auffallend vielen Trinkbrunnen. Aber so reizt er mich nicht sonderlich und außerdem finde ich keine Bleibe. Also entschließe ich mich nach kurzer Zeit, die Fahrt fortzusetzen und weiter bis in den Norden der Insel zu fahren.
Die Ebene, die ich vom Dírfys-Pass bereits gesehen hatte, ist die Kornkammer Évias. Bei Néa Artáki stoße ich wieder auf die Hauptstraße, die in den Norden führt. Dazu muss sie das Kandílio-Gebirge überwinden, was nur mit einer enormen Anzahl von Kurven möglich ist. Bereits hier fallen mir Gruppen von Fußpilgern auf dem Weg nach Prokópi auf, wo in vier Tagen das Fest des heiligen Ioannis tou Rossou gefeiert wird, ein in der orthodoxen Kirche wichtiges Ereignis. Ich werde später ausführlich darüber berichten. Die Vegetation erinnert hier nicht im Geringsten daran, dass man sich in Griechenland befindet. Es dominiert abwechslungsreicher Mischwald mit Eichen, Kastanien und Platanen, mit Efeu und Farnen auch am Boden üppig, dazwischen wird jede Möglichkeit landwirtschaftlich genutzt: Kirschen und Äpfel, Wein, Getreide, Kartoffeln, Gemüse, alles, was das Herz begehrt. Die Landschaft ist dermaßen untypisch, dass man nach einiger Zeit vergisst, wo man sich befindet und sporadisch auftauchende Zypressen beinahe fehl am Platze erscheinen.
An einem Frühlingssonntag sah ich zwei, drei Kirschbäume auf einem roten Acker, und mein Herz
füllte sich mit Glück.
(Nikos Kazantzakis)
Schließlich erreiche ich mein Ziel: Límni ist mir auf den ersten Blick sympathisch. Hier möchte ich mein Quartier aufschlagen, dessen bin ich mir sofort sicher. Kaum dass ich die Promenade erreicht habe, fällt mir das Schild einer Privatunterkunft ins Auge, wo ich ein geräumiges 3-Bett-Appartement mit großer überdachter Loggia mit bestem Meerblick angeboten bekomme. Der Preis von 25 € pro Nacht lässt mich keine Sekunde zögern, spontan für vier Nächte zu buchen. Die Vermieterin - eine mit starkem holländischen Akzent Deutsch sprechende Griechin - gibt mir gleich ein paar Tipps mit auf den Weg, was sich in der Umgebung anzuschauen lohnt.
Nach der verhältnismäßig langen Autofahrt entspanne ich bei einem Kafé frappé und plane dabei das Programm für die nächsten drei Tage. Anschließend spaziere ich die Uferstraße entlang und merke mir einige Stellen, die sich für schöne Sonnenuntergangs-Photos anbieten - da inzwischen Wolken aufziehen, muss das allerdings noch etwas warten.
Die gemütlichen Cafés und Tavernen an der Promenade werden in den nächsten Tagen mein Stammplatz für Frühstück, Kaffee und Abendessen. Heute sind es Hähnchen und Backofen-Kartoffeln, Tsatsíki und Mythos-Bier, die meinen abendlichen Hunger stillen. Keine lukullische Sensation, aber für knapp 14 € in Ordnung. Weil es so schön ist, hier direkt am Meer zu sitzen, gehe ich wenige Meter weiter in ein Café und beschließe den Tag mit einem Ouzo. Dazu wird eine Karaffe Wasser, ein Eimerchen Eiswürfel, eine Portion Erdnüsse und eine Schale mit salzig-sauer eingelegten Gurken- und Möhrensticks serviert. Die Rechnung über 2,50 € weckt Zweifel in mir, ob die Gewinnspanne dabei lohnenswert sein kann.
Ein herrliches Fleckchen Erde haben Sie hier!
(Denholm Elliott in "Zimmer mit Aussicht")