Bei dem schönen Wetter an diesem Morgen schmeckt das Frühstück gleich noch mal so gut und auf dem Rückweg ist die Aussicht über die Bucht von Marmári wesentlich reizvoller als gestern. Ich hätte gerne eine andere Route als beim Hinweg am Sonntag gewählt, denn südlich von Stýra ist die Straße auf etliche Kilometer wegen vieler großer und tiefer Schlaglöcher nur mit äußerster Konzentration befahrbar, aber leider gibt es keine Alternative.
Der Ort Stýra zeichnet sich durch einen zentralen Platz aus, der alle Klischees erfüllt: In der Mitte stehen Bäume und ein alter Brunnen, um den Platz herum befinden sich alle Geschäfte, die das Dorfleben braucht: Tankstelle, Apotheke, Taverne, ein kleiner Supermarkt, Kirche und Kafeníon. Undenkbar, dass ich hier keine kurze Rast einlege. Auch wenn ich vor einer halben Stunde erst das Frühstück beendet habe - für einen griechischen Mokka ist immer Platz. Der Dorfpope genießt hier ebenfalls den sonnigen Morgen, alle Leute, die vorbeikommen kennen sich, grüßen sich, morgens, halb zehn in Griechenland. Die Situation ist das, was man "Frieden" nennt. Unterhaltung wird dadurch geboten, dass der komplette Nord-Süd-Verkehr der Insel diesen Platz überqueren muss. Das ist zwar nicht so viel, wie es sich anhören mag, aber vom blitzblanken Brinks-Werttransporter über den qualmenden 30-Tonner, der kaum die Kurve des Kreisverkehrs bewältigt, bis zum uralten Traktor ist so ziemlich alles dabei.
Solche Momente weißt du erst zu schätzen, wenn sie vergangen sind.
(Edgar Barth)
Nach einer angemessenen Pause setze ich die Fahrt über die Insel fort, die von mir inzwischen den Beinamen "Insel des Oleanders" bekommen hat. Dabei ist Oleander zwar die dominierende, aber durchaus nicht die einzige Pflanze, die den Straßenrand säumt, Ginster ist ebenfalls häufig. Auf vielen Kilometern sind die Bergkämme mit Windkraftanlagen bestückt, die bestimmt einen nennenswerten Anteil zur Gesamtenergieversorgung der Insel beitragen. Mit solchen Eindrücken geht es weiter in Richtung Norden.
Der nächste Zwischenstopp ist Avlonári, ein sehr gepflegt wirkender Ort, der sich mit winkligen, schmalen Gassen einen Hügel hinaufzieht. Er besitzt eine schon aus der Ferne erkennbare charakteristische Skyline, die von einem mächtigen venezianischen Wachturm bestimmt wird, welcher alle anderen Gebäude weit überragt. Von dort oben sollte man eine gute Aussicht über die flache Hügellandschaft der Umgebung haben, nur ist der Turm leider nicht zugänglich. Vom ebenfalls hoch gelegenen Kirchplatz ist der Blick jedoch auch schon annehmbar.
Kurz hinter Avlonári teilt sich die Straße und ich habe zwei Alternativen: An der Küste entlang oder durchs Gebirge. Ich wähle das Gebirge. Diese Entscheidung bereue ich keine Sekunde. Die Straße führt herrlich kurvig an den Hängen des Skotiní-Berges entlang, die Landschaft ist fruchtbar, üppig grün und größtenteils bewaldet. In regelmäßigen Abständen werden schmucke Bergdörfer durchquert, die so einladend wirken, dass man in jedem eine Pause machen möchte - schöner kann Autofahren im Urlaub gar nicht sein!
Gegen Mittag erreiche ich Kými, mein nächstes Ziel. Der Hauptteil des Ortes, auch Áno Kými genannt, liegt in einem kleinen Talkessel, 250 Meter über dem nahen Meer. Hier ist es sehr lebendig, sogar um diese Uhrzeit. Die Hauptstraße ist gleichzeitig Flaniermeile, Parkplatz, Warenlager und Kaffeebar, der Bürgersteig wird zusätzlich als Grillplatz benutzt. Wunderbar - so etwas habe ich bereits seit einigen Jahren nicht mehr gesehen. Der Ortsplatz neben der Kirche Ágios Athanásios ist ebenso belebt wie einladend, und nachdem ich mich mit einem Eisbecher gestärkt habe, lasse ich mich auf ihm zu einem Kafé frappé nieder.
Von Áno Kými führt die Straße in steilen Serpentinen zum Meer hinab, wo sich der Ortsteil Paralía Kými mit Hafen und Strand befindet. Es ist der einzige Hafen, von dem Fähren zur Insel Skýros ablegen. Im Hotel "Beis" quartiere ich mich für 35 € für eine Nacht mit Frühstück ein.
Da Paralía Kými im Wesentlichen nur aus der Uferstraße und dem Hafen besteht, ist es mit Sehenswürdigkeiten nicht weit her. Aus diesem Grund folge ich zuerst der Uferstraße bis Stómio, wende mich vom Meer ab in die Berge und fahre bis zum nahe gelegenen Kloster Mátzari. Da die Zeit der üblichen klösterlichen Mittagsruhe nicht vorüber ist, mache ich zunächst einen kleinen Spaziergang durch die Umgebung. Nach kurzer Wegstrecke erreiche ich einen Rastplatz. Hier, im Schatten von Pinien und eingelullt von deren intensivem Duft, dem Lied des Windes in den Gipfeln lauschend, ist es schwer, wach zu bleiben und in versinke bald in jenen angenehmen Übergang zwischen Schlaf und Bewusstsein.
Es war eine erschreckende Verbindung von Traum und Wirklichkeit; die zwei Welten zerschmolzen in einer
Schale reinen Lichtes, und wir, die Reisenden, schwebten sozusagen außerhalb des irdischen Daseins.
(Henry Miller)
Als ich daraus wieder erwache, ist es 16 Uhr und somit sollte das Kloster geöffnet sein. Leider denken die Nonnen des Klosters anders. Wie ich etwas später erfahre, ist das durchaus üblich, viele Nonnenklöster öffnen die Türen für Besucher wohl nur am Vormittag. Um den Rest des angefangenen Nachmittags zu nutzen fahre ich nach Stómio zurück, wo es einen bekannten Strand gibt. Dieser ist zwar lang, breit und alles andere als überlaufen, doch zu meiner Enttäuschung grob kiesig. Und das macht selbst bei geringer Brandung ohne Badeschlappen wenig Spaß. Am Strand mündet ein namenloser Fluss ins Meer. Seine Ufer sind zwar nicht kiesig, aber dafür sinkt man im Schlick so tief ein und die Strömung ist so stark, dass hier zu baden keine Alternative ist. Trotzdem ist mir der Ort mit den vielen Wasservögeln im Schilf und der Möwenkolonie angenehm, sodass ich einige Zeit verweile.
Kreise zog ich am Himmel und schrie
Auf die Gefahr hin ein Glück zu haschen
Hob einen Stein und zielte weit.
(Odysseas Elytis)
Am frühen Abend kehre ich nach Paralía Kými zurück und spaziere entlang der Küstenstraße in die entgegengesetzte Richtung. Ich finde einige kleine, aber feine Sandstrände, doch da sich die Bucht nach Osten öffnet, liegen sie zu dieser Tageszeit bereits im Schatten der steil aufragenden Berge. Die Strände enden an einer kleinen Kapelle, die vermutlich einer Unterspülung als Folge einer Sturmflut zum Opfer gefallen ist - ein seltenes Bild in Griechenland.
Zum Essen besuche ich eine der zahlreichen Tavernen am Hafen. Zur Begrüßung wird mir ein mit Zwiebeln und Essig marinierter Tintenfisch serviert. Danach ordere ich einen Garnelen-Tomaten-Käse-Auflauf, einen halben Liter Weißwein und dazu einen Tsatsíki. Letzterer hat einen Knoblauchgehalt, der mich heute Nacht sicher vor blutgierigen Mücken schützen dürfte. Ich muss dabei an den allerersten Tsatsíki meines Lebens denken - vor nun genau 30 Jahren habe ich ihn von meinem Tischnachbarn Martin probieren dürfen und war so begeistert, dass ich ihm fast die gesamte Portion weggenascht habe. Die Nachspeise, die mir aufgetischt wird, holt mich in die Gegenwart zurück: Ein Stück sirupdurchtränkter Marmorkuchen - und das, obwohl ich nach dem reichlichen Hauptgang ohnehin schon übersatt bin. Das gesamte Mahl belastet meine Urlaubskasse mit knapp 17 €. Während des anschließenden Hafenspaziergangs laufen zwei Trawler ein und ich kann die Knochenarbeit beim Löschen der Ladung beobachten. Von Fischereiromantik bleibt da keine Spur. Unmittelbar nebenan liegen einige Luxusyachten am Kai vertäut - der Kontrast könnte größer nicht sein.