Am Morgen ist der Himmel gleichmäßig von grauem Hochnebel bedeckt. Die Temperatur ist jedoch angenehm, sodass einem Frühstück auf der Hotelterrasse nichts im Wege steht. Dieses ist überraschend gut - für griechische Frühstücksmaßstäbe sogar ausgezeichnet - und bestätigt meinen Eindruck vom erstklassigen Preis-Leistungsverhältnis des Hotels. Für heute habe ich mir vorgenommen, den Süden Évias zu erkunden.
Mein erstes Ziel ist die Ruine des "Kastello Rosso", der einstmals mächtigen venezianischen Festung, die im 15. Jahrhundert auf einem Hügel oberhalb der Stadt erbaut wurde. Die Straße führt bis auf die halbe Höhe, den Rest muss man zu Fuß erklimmen. Viele Besucher scheinen hier in letzter Zeit nicht gewesen zu sein: Der Weg ist teilweise mit Spinnweben überwachsen und reichlich mit Ziegenkot bedeckt. Umso überraschter bin ich, dass in der heruntergekommenen Kapelle, die sich im oberen Bereich der Festung befindet, das Ewige Licht brennt - hin und wieder muss wohl doch jemand vorbeischauen. Der Blick von oben über die Stadt Kárystos und die gleichnamige Bucht ist infolge des diesigen Wetters leider stark beeinträchtigt, wäre bei klarer Sicht aber sicher phantastisch. Eine Zeitlang streife ich durch die Ruinen und wäre nicht überrascht, wenn mir Gespenster begegneten - die Stille und die tiefen Wolkenfetzen wecken entsprechende Assoziationen.
Mein nächstes Ziel ist die gegenüberliegende Küste, wo die bekannte Dimosári-Schlucht am Meer endet - vielleicht ist das Wetter dort freundlicher und es lohnt eine Wanderung in die Schlucht. Die Fahrt quer über die Insel führt durch eine abgelegene Bergwelt, nur die regelmäßig vorkommenden Steinbrüche, in denen seit der Antike begehrter grüner Marmor abgebaut wird, beweisen die Anwesenheit von Menschen. Die Landschaft ist faszinierend: Die Bergkuppen sind karg, nur mit Macchie bewachsen, die Täler hingegen mit alten Platanen, Kastanien und Eichen üppig bewaldet. Wie an vielen anderen Stellen in den griechischen Bergen gibt es entlang der Straße zahlreiche Brunnen, um seine Vorräte mit wundervoll kaltem, frischem Quellwasser aufzufüllen. Inmitten dieser Einsamkeit liegt der Ort Ágios Dimítrios wie eine Oase in der Wüste.
An der Nordküste fallen die Berge steil und schroff ins Meer ab - Erinnerungen an die Südküste Kretas werden wach. Wo die Schluchten enden, haben sich wundervolle Sandstrände gebildet und hin und wieder finden sich dazwischen Traumbuchten, die auf dem Landweg völlig unzugänglich sind. Die asphaltierte Straße endet hier - wer weiter will, muss seinem Fahrzeug entweder eine grobe Schotterpiste zumuten oder auf Schusters Rappen wechseln. Ich wähle die zweite Alternative und folge der Piste bis zum Ausgang der Dimosári-Schlucht, das drückende und graue Wetter nimmt mir jedoch die Lust, zum Meer hinab zu steigen oder in die Schlucht hinein zu gehen.
"Denn sieh nur, wie nach dem Meer zu die Insel besonders zerklüftet und wild ist! Dies",
fährt er fort, "sind die so genannten euböischen Buchten."
(Dion Chrysostomos)
Zurück an der Südküste fahre ich nach Marmári, dem zweitgrößten Ort im Süden nach Kárystos und wichtigen Fährhafen zum griechischen Festland. Die Lage beider Orte ist vergleichbar: Beide liegen an einer weiten Bucht und ziehen sich sanft die Hänge hinauf. Weil in der Bucht von Marmári die Petalischen Inseln liegen, die den Blick zum Meer begrenzen, hat man hier jedoch den Eindruck, man befände sich an einem kleinen Binnensee - da wirkt die im Hafen festgemachte Fähre ein wenig überdimensioniert.
Die steinige Bucht neben dem Hafen ist bei Seeigeln offensichtlich sehr beliebt. Im flachen Wasser sind sie allerdings ein leichtes Ziel für Seeigel-Sammler, denn ihre reifen Eierstöcke gelten in Griechenland als Delikatesse, vergleichbar mit Kaviar. Wie es die Männer schaffen, die wehrhaften Tiere barfuß und mit ungeschützten Händen einzusammeln, ist mir ein Rätsel.
Der Ort selbst ist hübsch, hat eine deutlich touristisch entwickelte Infrastruktur und ist jetzt in der Mittagszeit erwartungsgemäß ruhig. Die meisten Aktivitäten gehen von fahrenden Händlern aus, Roma-Familien, die mit ihren offenen Pick-Ups überall auf der Insel unterwegs sind und vorzugsweise Kartoffeln, Zwiebeln, Knoblauch, Blumen, Gartenstühle und Haushaltspapier verkaufen. In einer der zahlreichen Tavernen fülle ich meinen körpereigenen Energievorrat mit einer überdimensionierten Portion griechischen Salates wieder auf.
Über eine Nebenstrecke kehre ich nach Kárystos zurück und folge dort der Uferstraße, die auf das einsame Kap westlich der Stadt hinaus führt. Hier sollen einmal umfangreiche Ferienanlagen entstehen, aber noch ist nichts gebaut. Nur zahlreiche Straßen schlängeln sich bereits um die gerodeten Hügel, die so einladend aussehen, wie die freien Flächen auf einem Flughafen. Ob das jemals realisiert wird? Die Voraussetzungen sind dabei gar nicht so schlecht: Der breite Sandstrand, der sich westlich der Stadt erstreckt, setzt sich hier in vielen, teilweise sehr schönen, sandigen Buchten fort. Aber wenn die Natur erhalten bleibt und der Gelbe Hornmohn hier auch in Zukunft wachsen darf, ist das ja auch nicht schlecht. Leider ist weiterhin kein Badewetter, weshalb ich in die Stadt zurückkehre und den Rest des Nachmittags mit einem Kafé frappé und einem guten Buch, später mit einem Strandspaziergang verbringe.
Am Abend entdecke ich in einer kleinen Gasse, die die Promenade mit der Haupteinkaufsstraße verbindet, ein traditionelles Estiatório. In zahlreichen Töpfen und Pfannen werden die Gerichte verführerisch präsentiert und vom deutschsprachigen Wirt ("Oh, du kennst Köln-Deutz? Dort wohnt meine Schwester!") gekonnt erklärt. Bei soviel Auswahl fällt mir die Entscheidung schwer. Als Vorspeise nehme ich schließlich gegrillte Pilze, gefolgt von einem in Tomatensauce geschmorten Octopus mit Bratkartoffeln und einem Mythos-Bier. Die Sauce weist deutlich orientalische Einflüsse auf, mit Zimt und viel Lorbeer lässt sie dem Kraken geschmacklich leider kaum eine Chance. Die Kombination ist mit 13 € recht preiswert, zusätzlich wird mir als Nachspeise eine Mürbeteigschnitte mit Zitronen-Buttercreme serviert.