Das Land, diese Insel in ihrer Kraft, hat die Kulturen zu sich genommen wie Opfer, die der
göttliche Stier verschlang. Das Minoische, das Dorisch-Griechische, das Römische, das Byzantinische,
venezianische Pracht, türkische Wachtürme und Gärten - das ruht nun und dämmert in
Trümmern neben- und übereinander und muss sich vertragen.
(Erhart Kästner)
Évia ist ein Phänomen. Évia ist eine übersehene Insel. Tatsächlich wird Évia - die nach Kreta zweitgrößte griechische Insel - außerhalb Griechenlands nicht wahrgenommen. Während man in der Reiseabteilung einer Buchhandlung die Literatur zu Kreta in laufenden Metern messen kann und selbst zu winzigen Eilanden wie Samothrake oder Kos eigene Bücher vorfindet, wird Évia in einem einzigen Reiseführer mit einem gerade mal 18 Seiten fassenden Kapitel pflichtschuldig abgehandelt.
"Wo liegt denn das?", war dementsprechend die häufigste Reaktion auf die Angabe meines diesjährigen Urlaubsziels. Erst die Nennung des im Deutschen gebräuchlicheren altgriechischen Namens "Euböa" führte vereinzelt zu einem wissenden Kopfnicken.
Dabei bin ich selber nicht besser. 30 Jahre habe ich benötigt, um dieser Insel meinen ersten Besuch abzustatten und in diesem Jahr ist es soweit. Der Beginn entbehrt nicht einer gewissen Routine: Die nächtliche Fahrt zum Flughafen, Warten und Starten, das Servieren eines Sandwichs, kaum dass die Alpen unter mir hinweg gleiten. Je weiter ich nach Süden komme, desto stärker verdichten sich die Wolken und bei der Landung in Athen finde ich eine geschlossene Wolkendecke vor. Ich nehme einen roten Citroën C1 in Empfang, und somit beginnt für mich um Punkt 11 Uhr "on the road" der eigentliche Urlaub. Es beginnt leicht zu regnen.
Über die Autobahn ist Évia vom Athener Flughafen aus problemlos in einer Stunde zu erreichen. Die Insel ist durch zwei Brücken mit dem Festland verbunden. Kurz vor der Autobahnbrücke zweige ich auf die Landstraße ab und wähle die Alte Brücke, die an der schmalsten Stelle über das Meer führt, welches hier nur knapp 50 Meter breit ist. Auf diesem Weg gelange ich direkt in das Herz der Inselhauptstadt Chalkída. Um mir die Beine zu vertreten mache ich eine kurze Pause, gönne mir einen Kafé frappé direkt an der Uferpromenade und setze meine Reise fort. Da die Wolken aufreißen und das Wetter schöner zu werden verspricht, entschließe ich mich, nicht an einem Stück bis in den Süden der Insel zu fahren, sondern steuere Agíi Apóstoli an der Ostküste an. Der reizende, etwas verschlafen wirkende kleine Ort scheint mir genau der Richtige zu sein, um nach der Anreise in Urlaubsstimmung zu kommen.
Eine befestigte Promenade wird in Ag. Apóstoli nicht geboten. Die Häuser am Strand sind lediglich über eine festgefahrene Sandpiste zu erreichen, was sehr ursprünglich und mir daher sympathisch ist. Hier entdecke ich die Studios "Argo", in denen es über das Wochenende noch genau ein freies Zimmer gibt - mehr brauche ich ja auch nicht. Die Appartement-Anlage ist äußerst ansprechend: Die Zimmer sind gepflegt, es gibt einen liebevoll gestalteten Garten und Gehege, in denen sich Hühner, Gänse, Pfauen und sogar zwei Strauße tummeln. Bei 29 € pro Nacht incl. Frühstück muss ich nicht lange überlegen.
Nur fünf Stunden nach der Landung spüre ich zum ersten Mal die salzige Kühle des Meeres an meinen Füßen. Anschließend spaziere ich am Sandstrand entlang bis zum kleinen Hafen, in dem deutlich mehr Fischerboote als Yachten in der Sonne dümpeln. Es gibt ein paar Tavernen, Geschäfte und einen Supermarkt, sodass es mir an nichts mangelt. In den Gärten der Häuser stehen Rosen, Oleander und verschiedene Zitrussträucher in voller Blüte und verströmen einen betörenden Duft. Am Ortsrand erklimme ich eine kleine Anhöhe - von hier aus liegt mir die kleine Bucht malerisch zu Füßen. Dann setze ich mich am Ende des Strandes, etwas abseits des Ortes, ans Meer und lausche dem Anbranden kleiner Wellen. Das ist pure Erholung!
Die Muße ist die Schwester der Freiheit.
(Aristoteles)
Zur Studio-Anlage gehört eine Taverne mit einer Terrasse, die direkt am Strand liegt. Ich sehe keinen Grund, der dagegen spricht, hier zu essen. Der Tsatsíki ist außergewöhnlich delikat, ebenso der frische frittierte Kalmar. Mit einer Portion Pommes und einem gut gekühlten Mythos-Bier wird daraus ein würdiges erstes Abendmahl. Zur Rechnung über 18 € wird mir eine Nachspeise serviert, die ich nicht sicher identifizieren kann: Ich tippe auf getrockneten Früchte, die in Sirup gekocht wurden und gut mit dem ebenfalls sehr süßen und leicht zimtigen Likör harmonieren. Nach einem kurzen Verdauungsspaziergang falle ich schnell in einen tiefen Schlaf.