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Ich beginne den Tag mit einem Morgenspaziergang durch die gerade erwachende Stadt. Die Spanakópita zum Frühstück ist inzwischen beinahe ein Muss. Das Wetter gibt sich unentschlossen, die Schwüle vom Vorabend ist vorüber, aber es ist nicht wolkenlos. Heute ist noch einmal ein volles Kulturprogramm angesagt und dazu fahre ich zunächst bis vor die Tore der Stadt. Hier liegt Knossós.

So hatte ich denn schon ziemlich viel von Kreta gesehen, bevor ich nach Knossos kam.
(Erhart Kästner)

Gut vorbereitet auf das, was mich erwartet, betrete ich die Ausgrabungsstätte. Sie ist groß und beeindruckend, touristisch bis zum Letzten erschlossen, schon in der Vorsaison überlaufen und ziemlich genauso, wie ich sie mir vorgestellt habe. Nachdem ich mir einen ersten Eindruck verschafft habe, setze ich mich zur Seite und versuche meine Gedanken zu ordnen. Ich weiß nicht recht, ob ich begeistert oder entsetzt sein soll, zu unklar erscheint mir die Stätte, zu viele Fragen bleiben offen:

  1. Was ist original minoisch?
  2. Was ist begründet und gut recherchiert rekonstruiert?
  3. Was ist mit viel Phantasie rekonstruiert?
  4. Was ist gebaut, nur um die Touristenströme zu lenken?

Vor allem die vom Ausgräber Sir Arthur Evans gewählten Bezeichnungen, die inzwischen zum großen Teil in Frage gestellt werden, finde ich irreführend. Warum hat man diese bis heute noch immer nicht geändert? Im "Thronsaal" hat vermutlich nie ein König residiert und die Fresken erfreuten eher Priesterinnen als Beamte. Das mehrstöckige Treppenhaus ist aussagekräftig, aber warum bestehen das Lustralbad oder die Wasserleitungen fast ausschließlich aus Beton? Gegen die kräftigen Farben ist nichts einzuwenden - das liebte man in der Frühzeit - aber warum muss jede gepflasterte Straße gleich ein "Prozessionsweg" sein, oder die in jedem minoischen Palast existierenden Treppen gleich ein "Theater"? Interpretiert man hier nicht ein wenig über? Will man damit den Glanz erhöhen, um noch mehr Besucher anzulocken? Ich frage mich ohnehin, wie das hier in der Hochsaison aussieht, wo sich schon jetzt an manchen Stellen lange Schlangen in der schattenlosen Hitze bilden. Schade finde ich auch, dass die meisten Bereiche abgesperrt sind und man die Anlage nur von geführten Fußwegen aus besichtigen kann. Ungeachtet dessen benötige ich zweieinhalb Stunden, um mir eine Meinung über die größte und wichtigste minoische Ausgrabungsstätte zu bilden.

Als erstes wird klar: der gute Geschmack war bei diesem Wiederherstellungswerk nicht zu Gaste geladen.
(Erhart Kästner)

Zurück in der Stadt nehme ich direkt am Morosini-Brunnen in einem Café Platz, das mit dem Spruch "Loukoumádes bakery since 1922" wirbt. Ich bestelle mir eine Portion davon zum Kafé frappé und muss anerkennen, dass man die 90 Jahre Erfahrung schmeckt: Die mit Honigsirup getränkten und mit geröstetem Sesam bestreuten, frisch frittierten Hefeteig-Bällchen sind watteweich und wahrhaft delikat. Aber auch hier bekomme ich das Wasser zum Frappé erst auf Nachfrage.

Die heißeste Zeit des Tages nutze ich für einen Besuch des Archäologischen Nationalmuseums, welches die weltweit größte Sammlung minoischer Kunst beherbergt. Das Museum wird seit einiger Zeit vollständig umgebaut und modernisiert - währenddessen ist nur ein kleiner Teil der Funde in einem Nebengebäude der Öffentlichkeit zugänglich. Dieser Nachteil wird dadurch kompensiert, dass es sich hierbei um die "Best-of" handelt, man sich also die wichtigsten Stücke in konzentrierter Weise ansehen kann.

Da ein Reisebericht keinen Museumsführer ersetzen soll, beschränke ich mich hier auf die Exemplare, die in mir den stärksten Eindruck hinterlassen haben: Ein anmutig aus Stein geschnitzter Puma, die wundervolle Bergkristallvase aus Káto Zákros, die berühmte Schlangenpriesterin, eine Vase mit einem Relief, das junge Männer bei einer Art Erntedank-Prozession zeigt und ein goldener (Siegel?)-Ring gehören dazu. Natürlich fehlen auch nicht die Originalfresken aus Knossós: Die Stierspringer und die Priesterin. Als schriftbegeisterter Mensch faszinieren mich die Tontäfelchen mit Linear-A und Linear-B Schrift sowie der geheimnisvolle, bis heute unentschlüsselte Diskos von Festós besonders. Ausnehmend gut gefallen mir der mit Fresken verzierte steinerne Sarkophag aus Agía Triáda und - last, but not least - die wie Spielzeug wirkenden Haus-Fayencen und das tönerne Hausmodell, die wichtige Erkenntnisse zur minoischen Architektur beigetragen haben.

Die durch die komprimierte Ausstellung gesparte Zeit und Fußkraft investiere ich in einen Spaziergang über die venezianischen Befestigungsanlagen, die die Altstadt vollständig umgeben. Die Ausmaße der Mauern und Wälle sind unglaublich: Bis zu 15 Meter hoch und bis zu 40 Meter breit. Da kaum ein Haus der Innenstadt die Mauern überragt, hat man einen guten Blick. An den sieben Bastionen ist die unüberwindbare Verteidigungsanlage noch wesentlich stärker, die am südlichsten Punkt gelegene Martinéngo-Bastion ist sogar so breit, dass sich heutzutage ein Fußballstadion auf ihr befindet. Neben dem Grab von Nikos Kazantzákis fällt mir ein weiteres schlichtes Denkmal auf, an das ich mich nicht erinnere. Tatsächlich ist es neu, hier hat seine Gattin, die im Jahr 2004 einhundertjährig verstorbene Eléni Kazantzáki, ihre letzte Ruhe gefunden.

Ich hoffe nichts. Ich fürchte nichts. Ich bin frei.
(Nikos Kazantzakis, Inschrift auf seinem Grabstein)

Mit den insgesamt drei Kilometer langen, lieblos gestalteten Wällen verschenkt man ein beträchtliches Naherholungs-Potenzial. Nur wenige Investitionen und etwas gärtnerisches Know-how wären nötig, um hier einen wunderbaren Grüngürtel anzulegen. Stattdessen findet man trockenes Unkraut, krüppeliges Buschwerk, schlechte Schotterwege und keine Spur von Schatten. Dabei lässt einen der angenehm frische Wind vergessen, wie intensiv die Sonne ist. Anstatt Spaziergänger anzulocken, sind die Wälle so verwaist, dass sich ihr nordwestliches Ende zu einem Refugium für jugendliche Liebespaare entwickelt hat, die es ja sonst in Griechenland schwer haben, einen ungestörten Moment für Zärtlichkeiten zu finden.

Ha! Welche Wonne fließt in diesem Blick
Auf einmal mir durch alle meine Sinnen!
(Johann W. von Goethe, Faust 1)

Die Stadtmauern enden an der Uferpromenade. Ich folge ihr bis zum Hafen, der bunt und lebendig ist, viele Fischer verrichten hier noch immer ihren harten Beruf. Ich besichtige die Koules-Festung, die bei meinem letzen Besuch wegen Renovierung geschlossen war. Im Inneren besteht sie aus großen gruseligen Gewölben, welche die hier Eingekerkerten leidlich deprimiert haben müssen. Ob es die Lichtschächte, die für spannende Photomotive sorgen, früher schon gegeben hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Vom schön wiederhergestellten, hoch gelegenen Innenhof hat man den gewünschten Rundblick über das Meer und die Stadt mit ihrem Hafen. Die beiden Schiffswracks, die seinerzeit an der Mole vor sich hin rosteten, sind inzwischen verschwunden.

Obgleich ich, nach dem langen Tag auf den Beinen, meine müden Füße spüre, muss ich noch einmal in die Innenstadt, um fehlende Souvenirs zu besorgen. Nicht ganz einfach an einem Sonntag, aber letztendlich erfolgreich.

Auf dem Weg zum Essen komme ich an der Titus-Kathedrale vorbei, vor deren Türen bereits eine Ehrengarde der Armee und ein Blasorchester warten. Im Inneren der großen Kirche sind Dutzende von festlich gewandeten Popen dabei, große Mengen Weihrauch zu verbrennen - hier ist irgendwas im Gange. Ein Offizier erklärt mir, dass heute das Fest des heiligen Titus ist. Und ihm ist nicht nur diese Kirche geweiht, sondern er ist der Schutzheilige von ganz Kreta. Das muss natürlich gebührend gefeiert werden.

Da die Zeit des Sonnenuntergangs naht, spaziere ich vor dem Abendessen erneut zum Hafen, in der Hoffnung auf einen schönen Abschieds-Sonnenuntergang. Und ich habe Glück. Nicht nur, dass die Sonne bilderbuchmäßig versinkt, der kräftige Wind verursacht malerische Wellen und just in dem Moment, als ich abdrücke, fliegt mir, wie bestellt, eine Möwe vor die Linse. Perfekt!

Anschließend hole ich den schon für gestern Abend geplanten Besuch eines Obelistírios nach. Nun kann ich meinen Appetit auf Gyros und Pommes endlich befriedigen. Dass es hier sogar Mythos gibt, hellt die Abschiedsstimmung nicht unwesentlich auf. Nach dem Essen ist auch der Festgottesdienst zu Ende und die Gemeinschaft der Gläubigen begibt sich auf den Weg zu einer Prozession durch die Innenstadt. Mit scharf bewaffneter Begleitung hatte die orthodoxe Kirche nie ein Problem.

Warum beschreiten die Menschen nicht eigene Pfade, anstatt sich in den ausgetretenen Bahnen anderer zu bewegen? Warum haben sie keine eigenen Gedanken?
(Marc Van Allen)

Als ich mich an den Morosini-Brunnen setze, um den letzten Abend ausklingen zu lassen, wird es zum ersten Mal in diesem Urlaub so kühl, dass ich meinen Pullover benötige. Auf dem Rückweg zum Hotel schaue ich einer Gruppe von Jugendlichen zu, die auf dem glatt polierten Marmorboden unter den prunkvollen Arkaden der Venezianischen Loggia einen Breakdance-Battle abhalten. Solche Kontraste liebe ich!

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Archäologisches Museum Iráklion:


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