Leichte Bewölkung begleitet meinen Weg an diesem Morgen. Westlich von Sitía führt die Strasse halb hoch ins Gebirge, eine wunderschön zu fahrende Strecke, die auf vielen Kilometern von rot und weiß blühendem Oleander und gelbem Ginster gesäumt wird. Es geht durch pittoreske Gebirgsdörfer, grün bewaldete Hänge und silbriggrüne Olivenplantagen. An manchen Stellen liegt einem die Nordküste Kretas zu Füßen - so macht Autofahren Spaß! Kurz vor 10 Uhr erreiche ich mein Etappenziel Ágios Nikólaos.
Der Ort, eines der ersten Touristenzentren Kretas, ist weit weniger überlaufen, als ich das erwartet hatte. Wie üblich lasse ich meinen Wagen am Rand des Stadtzentrums stehen und mache mich auf die Beine, nicht ohne mich frühzeitig mit einer ofenfrischen Spanakópita zu versorgen. Der Ort hat Flair, das muss man ihm lassen, die Innenstadt ist gepflegt, die Fußgängerzone mit jungen Bäumen begrünt. Und mitten in der Stadt befindet sich das Aushängeschild von Ágios Nikólaos: Der steil in die Felsen eingeschnittene Binnensee, der über einen neuzeitlichen Kanal mit dem Hafen verbunden ist. Die Brücke über diesen Kanal ziert mindestens so viele Kretakalender, wie die Säulen von Knossós. Schade, dass ein gigantisches Kreuzfahrtschiff das Panorama zum offenen Meer blockiert.
Da es warm und schwül und die Innenstadt überschaubar ist, fällt mein Rundgang zunächst recht kurz aus und ich lasse mich am oberen Rand der Steilküste des Voulisméni-Sees in einem Café nieder, in dem, trotz der Terrasse mit phantastischer Aussicht, keine höheren Preise verlangt werden, als anderswo. Der Blick auf den Ort, den See, die belebten Ufer und die bunten Häuser ist wirklich reizvoll und wirkt seltsam vertraut, so oft hat man ihn schon als Postkartenmotiv gesehen. Ich bleibe lange sitzen.
Er liebte es, lange, herrlich träge Tage in den Kafenions zu verbringen.
(Nicholas Gage)
Ausgeruht spaziere ich erneut durch die Stadt, suche am Seeufer, wo Fischer die unbrauchbaren Kleinfische an ungeduldige Katzen verfüttern, nach Photomotiven, schaue nach Souvenirs und bummele an der Meerespromenade entlang. Dabei fällt mein Blick auf das Mezedopolío "To Pareáki", dessen Gäste äußerst appetitlich beladene Teller vor sich stehen haben. Anfänglich zögernd, beschließe ich erst auf dem Rückweg, es hier mit einem Imbiss zu versuchen. Die köstlichste Entscheidung des Jahres. Ich ignoriere die Speisekarte und bestelle einfach "eine Platte mit etwas von Allem".
Nach vielversprechend langer Wartezeit kommt eine große Platte mit dem Besten, was die griechische Vorspeisenküche zu bieten hat: Gefüllte Weinblätter, gebratene Fleischbällchen, frittierte Zucchini- und Auberginenscheiben, mit Spinat oder Féta gefüllte kleine Teigtaschen und dazu Tsatsíki. Das klingt weniger aufregend, als es ist. Alles ist frisch und hausgemacht und man schmeckt die Qualität. Mein verzücktes Gesicht nicht sicher deuten könnend, fragt mich der Besitzer, ob alles in Ordnung wäre. Als ich dem wortreich beipflichte, beteuert er stolz, dass seine Gattin dies alles von Hand zubereitet. Kurz darauf erscheint diese am Tisch und drückt mir die Hand. Ich versichere ihr überzeugend, dass dies die besten Mesédes seien, die ich jemals in Griechenland gegessen hätte und zähle eine Reihe von Regionen auf, die ich zum Vergleich heranziehen kann. Rot vor Verlegenheit und den Tränen nahe verabschiedet sich schließlich die Köchin. Wie rührend - und das ausgerechnet in so einem Touristenzentrum.
Das, worauf es im Leben ankommt, können wir nicht vorausberechnen.
Die schönste Freude erlebt man immer da, wo man sie am wenigsten erwartet hat.
(Antoine de Saint-Exupéry)
Auf der Weiterfahrt verdichtet sich die Luftfeuchtigkeit zu starkem Dunst, gleichzeitig frischt der Wind stürmisch auf. Und das Ganze bei annähernd 30°C! Auf der Schnellstraße entlang der Nordküste dauert es nicht lange, bis ich meine letzte Station erreiche: Iráklion. Einem Tipp meines Reiseführers folgend suche ich zuerst das Hotel "Mirabello" auf, wo ich für 28 € ein Zimmer bekomme. Nach einer kleinen Pause und einem Orientierungsgang durch die Stadt mache ich mich auf die Suche nach einer Imbissbude, da ich wegen der üppigen Portion zu Mittag nur einen kleinen Hunger verspüre. Für die typische Imbissbude mit einem Gyros-Drehspieß und Friteuse hat sich in den letzten Jahren die Bezeichnung Obelistírio (von gr. οβελός: Bratspieß) verbreitet und viele davon schmücken ihre Leuchtreklamen mit dem Bildnis eines bekannten Comic-Galliers. Ob die alle Lizenz-Gebühren dafür bezahlen?
Ich finde schließlich etwas vollkommen Gegensätzliches: Ein klassisches Estiatório, in dem die zur Auswahl stehenden Speisen, allesamt Schmorgerichte, gut sichtbar in einer Theke präsentiert werden. So etwas habe ich lange nicht mehr gesehen, da kann ich nicht widerstehen! Die Entscheidung fällt mir schwer, letztendlich nehme ich Briám, einen rustikalen Eintopf aus Kartoffeln, Auberginen, Okra-Schoten, Tomaten und Zwiebeln mit viel Knoblauch und etwas Chili. Die leicht feurige Schärfe weiß ich mit einem Mythos zu bändigen. Dieser Tag hat den kulinarischen Reinfall von gestern mehr als wettgemacht.
Nach dem Essen setze ich meinen Stadtbummel fort. Die Stadt platzt vor Leben aus allen Nähten - wen wundert's, es ist Samstagabend und Iráklion ist die fünftgrößte Stadt Griechenlands. Die Straßen rund um den Morosini-Brunnen, wo einst Mopeds und Autos das Bild bestimmten, sind inzwischen weiträumig zur Fußgängerzone umgestaltet und damit noch mehr als früher zum Treffpunkt geworden. Unter den Arkaden eines venezianischen Palazzos beginnt bald ein Konzert. Ein paar Instrumentalisten, zwei Solo-Sänger und ein kleiner Background-Chor interpretieren ein abwechslungsreiches Programm vom griechischen Gassenhauer bis zum internationalen Charthit. Nach einiger Zeit verabschiedet sich der Chor und die verbleibende Band spielt ein zunehmend rockiger werdendes Programm. Ein wunderbarer Abschluss des Tages.