Von Mücken zerstochen wache ich auf. Zitronenblütenduft weht durch die offene Balkontür herein, es ist Halbzeit. Ich setze meine Fahrt in Richtung Osten fort. Zuerst geht es durch die Messará-Ebene, der Kornkammer Kretas, die von den Flüssen der umliegenden Berge ganzjährig mit Wasser versorgt wird. Es ist ein fruchtbares Stück Land, abwechselnd geprägt vom silbrigen Dunkelgrün der Olivenbäume und dem hell leuchtenden Gelbgrün des jungen Weinlaubs. Tourismus ist hier kein Wirtschaftsfaktor, das Leben ist wie eh und je. Alte, schwarz gekleidete Bilderbuchkreter sitzen am Straßenrand, die Märkte in den Dörfern wirken ursprünglich und zeitlos. Hier wird keine Mode und kein Trödel verkauft, sondern die Bauern vermarkten ihre Produkte direkt. Obst und Gemüse sind im Angebot, ebenso Fleisch und lebendes Geflügel.
Östlich der lang gestreckten Ebene führt die Straße am Südhang des Díkti-Gebirges entlang, stößt dann auf die Südküste und folgt dieser bis Ierápetra. Nach der zweistündigen Fahrt kommt ein Kafé frappé richtig gut. Dazu setze ich mich an den Kampáki-Platz, einer lauten und lebhaften Kreuzung mitten in der Stadt und plane dabei die weitere Route. Der folgende Stadtrundgang bestätigt, was im Reiseführer steht: Ierápetra hat keine besonderen Sehenswürdigkeiten zu bieten. Eine schön angelegte, baumbestandene Fußgängerzone, die übliche Promenade am Meer, ein Stück Sandstrand mitten in der Stadt, selbst das venezianische Kastell hat man in anderen Städten schon beeindruckender gesehen. Immerhin steht es offen und von innen kann man einen schönen Blick auf die Promenade und den Fischereihafen werfen. Einzig erwähnenswert sind das Brunnenhaus vor der leicht heruntergekommenen Moschee und die Altstadt, welche ein reines Wohngebiet ist. Wenn man durch die engen, verwinkelten Gassen schlendert, könnte man die Kartoffeln aus dem Topf und die Wäsche von der Leine nehmen, ohne einen Schritt zur Seite treten zu müssen.
Kreta lebt gen Norden, Europa entgegen. Ierapetra ist nach Süden die einzige Stadt. Aber wie
afrikanisch lag diese Ortschaft da!
Das war nicht mehr Europa.
(Erhart Kästner)
Zur Mittagszeit nehme ich in einer Ouzéri an der Promenade, nahe dem Kastell, Platz und bestelle eine Oúzo-Mesédes-Kombination. Zum großzügig bemessenen Oúzo erhalte ich eine Portion gefüllte Weinblätter, eine Bruschetta, ein Dutzend Oliven und zusätzlich Brot. Das Ganze schlägt mit lächerlichen 2 € zu Buche. Unglaublich, für welch geringes Geld man satt werden kann. Eine Zeitlang bleibe ich sitzen und genieße die angenehme Meeresbrise, die es nicht schafft, die zunehmende Bewölkung zu verhindern.
Von Ierápetra führt die Strasse erst an einer landschaftlich reizlosen Küste entlang, dann in nordöstlicher Richtung quer über die Insel nach Sitía, meinem nächsten Standort. Der erste Eindruck von Sitía ist seltsam: Aus irgendeinem Grund wirkt der Ort unattraktiv. Liegt das nur an dem seltsamen Licht? Oder doch eher daran, dass, abgesehen von einer Reihe Palmen an der Promenade, überhaupt nichts Grünes - weder in der Stadt, noch auf den umgebenden Hügeln - zu entdecken ist. Trotzdem ist die Stadt voller Reisender. Was machen die alle hier? Nutzen sie etwa, so wie ich, Sitía nur als Basisstation für Ausflüge in den äußersten Osten?
In der alteingesessenen Pension "Apostolis" bekomme ich ein Dreibettzimmer für 27 € ("Please use only one bed!") und buche erneut für zwei Nächte. Inzwischen ist es sehr wolkig und sehr windig, ein seltsam gelbliches Licht liegt über der Stadt und vereinzelt fallen ein paar Tropfen. Jeder einzelne hinterlässt einen dicken Staubfleck. Ich setze mich in der Nähe des zentralen Platzes in ein Café und bestelle ein Mythos. Für 2,50 € bekomme ich zum Bier eine Schale Chips (wie fast überall) und zusätzlich eine Schale mit einer Mischung aus Erdnüssen, Pistazien und ein paar Mandeln. Das gefällt mir. Da das Wetter nicht zum Bummeln reizt und ich hier gemütlich sitze, nutze ich die Gelegenheit, um ausgiebig in meinen bisher wenig beachteten Reiseführern zu schmökern.
Später gehe ich zum Abendessen in die Taverne "Steki". Sie liegt nicht an der Promenade, sondern etwas abseits an der Hauptstraße, ist äußerst schlicht eingerichtet und wirkt so, als hätte sich hier seit den frühen achtziger Jahren nichts mehr verändert - eine aussterbende Art. Zur Abwechslung nehme ich heute einen offenen Weißwein zum Essen. Letzteres besteht aus einer unanständig großen Portion frittierter Zucchinischeiben, die zusammen mit dem frischen Brot alleine schon zum Sattwerden reichten, und zum Hauptgericht Soutzoukákia, das sind gebratene Rinderhack-Bällchen, die in einer würzigen Olivenöl-Tomatensoße geschmort werden. Dazu gibt es als Beilage ausnahmsweise mal keine Pommes, sondern Reis. Es ist alles sehr lecker, beste griechische Volksküche, und mit 11,50 € das bisher preiswerteste Essen. Auf einer Bank am Meer beschließe ich den Tag.