Mein Tourplan sieht vor, in den Osten der Insel zu wechseln. Weil mir die Strecke für eine Tagesfahrt zu lang ist und weil ich Mátala in guter Erinnerung habe, will ich dort einen Zwischenstopp einlegen. Außerdem kann ich das unkompliziert mit Besichtigungen in Górtis und Agía Triáda kombinieren.
Ich war erst drei Tage auf Kreta, als ich [...] in die mittelste Mitte der Insel, in ihr Herz fuhr.
(Erhart Kästner)
Der Himmel am Morgen ist die Definition von Blau. Die Luft ist noch frisch, aber man spürt schon, dass der Tag heiß werden wird. Ich überquere die Insel in südöstlicher Richtung, in den Bergen blüht noch strahlend gelb der Ginster, der an der Küste schon verblüht war. In Agía Galíni lege ich einen kurzen Halt ein, um meine Getränkevorräte aufzufüllen. Außerdem will ich bei dieser Gelegenheit dem Ort die Chance geben, meine Meinung über ihn zu revidieren. Vor zehn Jahren kam er mir unerträglich touristisch vor, aber vielleicht bin ich inzwischen toleranter. Nein, meine Beurteilung bleibt die gleiche: Herrlich gelegen, gepflegt, doch nicht die Art von Griechenland, die ich suche.
Anschließend durchquere ich Timbáki, welches das genaue Gegenteil von Agía Galíni ist: Laut, unattraktiv, pulsierend, die Essenz einer griechischen Landmetropole. Minuten später biege ich in die Abzweigung nach Agía Triáda ein.
Es ist schon seltsam: Der minoische Palast von Agía Triáda gehört wegen seiner außerordentlich reichen Funde in die gleiche Liga wie Knossós, Festós, Mália und Káto Zákros. Aber während auf dem Parkplatz von Festós die Fahrer der Reisebusse sich einander die Klinke in die Hand geben, ist im nur drei Kilometer entfernten Agía Triáda der Hund begraben. Die Straße dorthin ist schmal, schlaglöchrig und halb zugewachsen, so dass ich befürchte, die Anlage sei zur Besichtigung geschlossen. Glücklicherweise ist dem nicht so. Obwohl ich zehn Minuten vor der offiziellen Öffnungszeit ankomme, ist das Wärterhäuschen schon besetzt. Wie so oft, bin ich der erste Besucher.
Unter mir breitete sich, einem unendlichen Zauberteppich gleich, die Ebene von Messara, eingeschlossen
von majestätischen Gebirgsketten. Von dieser erhabenen Höhe sieht sie aus wie der Garten Eden.
(Henry Miller)
Agía Triáda liegt am gleichen Hügel wie Festós, aber während letzteres nach Osten, über die Messará-Ebene blickt, ist Agía Triáda zum Meer hin ausgerichtet. Und der Ort ist für eine Ausgrabungsstätte ungewöhnlich angenehm: Viele große Aleppokiefern spenden reichlich Schatten und vom Meer weht eine frische Brise herauf. Hier wurde nur ausgegraben, nichts rekonstruiert. Ob es sich um Treppenaufgänge, Kanalisation oder Vorratsmagazine handelt, die bronzezeitlichen Überreste sind so, wie ich sie hier vorfinde, vollkommen authentisch. Die Agorá mit der von einer Stoá begrenzten Ladenreihe finde ich besonders schön.
Exakt in dem Augenblick als ich abfahre, kommen die nächsten Gäste - das erlebe ich nicht zum ersten Mal. Wenige Minuten später erreiche ich Górtis, hier ist man den großen Ansturm gewohnt: Reisebus-Parkplätze, gepflegte Grünanlagen, Kiosk, Taverne - das volle Programm. Obwohl in Górtis fast ausschließlich Bauten aus römischer Zeit erhalten sind, ist es nach Knossós die meistbesuchte archäologische Stätte auf Kreta. Vor allem die Ruine der Titus-Basilika lockt zahlreiche Besucher an, ungeachtet der Tatsache, dass lediglich die Apsis, erhalten ist.
Zwei Punkte bilden den Schwerpunkt meines Interesses: Zum einen das berühmte Stadtrecht von Górtis. Die über 17.000 Buchstaben sind im Boustrophedon-Prinzip angeordnet, d.h. die Zeilen werden abwechselnd von links nach rechts und von rechts nach links gelesen. Der Text beinhaltet ein vollständiges "Bürgerliches Gesetzbuch" und behandelt zeitlose Themen wie Vermögensfragen, Scheidung, Erbrecht, Vergewaltigung sowie das Verhältnis zwischen Freien und Sklaven. Ursprünglich - d.h. im fünften Jahrhundert v. Chr. - bildeten die Steinblöcke einen Teil der Agorá und waren somit für jedermann öffentlich zu lesen.
Und dann ist da noch das eigentliche Stadtgebiet. Zu römischer Zeit war Górtis eine Weltstadt mit weit mehr als hunderttausend Einwohnern. Entsprechend weiträumig liegen die Trümmer der Antike verstreut. Da das Areal nie überbaut wurde, sondern seit Hunderten von Jahren als Olivenhain genutzt wird, kann man hier wunderbar beobachten, wie die Natur es zurückerobert. Ein römischer Torso taucht zwischen den Bäumen auf, die Szenerie der überwucherten Ruinen erinnert mich unwillkürlich an die finale Szene im Comic "Asterix und die Trabantenstadt". Wenige Touristen verirren sich hierhin, nur halbherzig wird ausgegraben. Wer weiß, was wenige Zentimeter unter dem Boden an unentdeckten Schätzen schlummert?
Die Hitze war inzwischen so grauenhaft geworden, dass ich nur den einen Wunsch hatte, mich in den
Schatten zu setzen.
(Henry Miller)
Wie erwartet, wird es ab Mittag sehr heiß. Ich fahre in das benachbarte Míres und verbringe meine Siesta im dichten Schatten eines Straßencafés im Zentrum der Stadt. Hier haben wir schon vor zehn Jahren mehrfach gesessen - ein herrlicher Platz, an dem man bei aller Lebendigkeit des Ortes die Zeit vergessen kann.
Am Nachmittag fahre ich die wenigen Kilometer nach Mátala. Als ich sehe, welche Anzahl von PKWs auf dem Parkplatz vor dem Ortseingang stehen, riecht es bedrohlich nach Massentouristenhaltung. Aber meine Sorge legt sich schnell, es sieht schlimmer aus, als es ist. Es sind fast alles Tagesgäste, die nur zum Baden kommen. Der Ort selbst ist nahezu unverändert, die Reihe der Tavernen am Meer noch immer leicht schäbig und der Strand zwar gut besucht, jedoch leert er sich von Minute zu Minute. In der Pension "Iliaki" finde ich auf Anhieb ein schönes Zimmer für 30 €. Zuerst genieße ich den Anblick der Bucht von einem Felsen am winzigen Hafen, dann gehe ich an den Strand, bade und liege in der Sonne.
Als die Sonne so tief gesunken ist, dass der Berghang mit den römischen Grabhöhlen im Schatten liegt, mache ich mich auf den Weg, diesen zu erklimmen. Das Wärterhäuschen ist verwaist, das Tor in der Abzäunung steht aber offen. Am Fuße der warmen Sandsteinfelsen blüht verschwenderisch die Rote Mittagsblume. Von den höher gelegenen Höhlenvorsprüngen hat man einen wunderbaren Ausblick auf den Ort und die gesamte Bucht.
Derlei gibt es in Attika, gibt's auch in Delphi nicht.
(Erhart Kästner)
Pünktlich zum Sonnenuntergang gehe ich zum Abendessen. Da sich die Bucht von Mátala nach Westen öffnet, ist der Ort prädestiniert dafür, schöne Sonnenuntergänge zu erleben. Auf der Terrasse einer Strandtaverne sitzend, werde ich von diesem immer wieder ergreifenden Naturschauspiel nicht enttäuscht. Die in der Dämmerung angestrahlten Höhlen runden das Bild harmonisch ab.
Das Essen kann dagegen nicht mithalten. Die Portion Oliven zur Vorspeise sind einwandfrei (wäre auch schlimm, wenn es auf Kreta schlechte Oliven gäbe), aber der Tipp des Tages ist nicht überzeugend: Es handelt sich um eine Scheibe Fleisch vom Schweineschinken, mit Tomaten, Zucchini und Käse überbacken, als Beilage gemischtes gedünstetes Gemüse (Broccoli, Blumenkohl, Möhren) und Pommes. Das Ganze wirkt ein wenig nach Resteverwertung und die Gemüsebeilage ist ein zu deutliches Entgegenkommen an den mitteleuropäischen Geschmack. Ein Mythos spült es runter. Immerhin - auch hier wird zum Nachtisch ein Teller mit Wasser- und Honigmelonenstücken und ein Tsikoudiá gereicht.
Im Anschluss setze ich mich in eine "Hafenbar", falls man das hier so nennen kann, und gönne mir diverse Genussgifte: Einen weiteren Tsikoudiá, eine Zigarre und ein Mythos. Mit der Schale Chips, die dazu serviert wird, dem Swinging-Jazz im Hintergrund und der leisen Brandung des Meeres lasse ich den gelungenen Tag angenehm ausklingen.
Wirklich glücklich ist, wer jeden Tag sagen kann: Heute habe ich gelebt.
(Horaz)