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Für den Vormittag habe ich einen Besuch von Mykene geplant. Da ich weiß, dass der Palast von Mykene infolge seiner Lage auf einer baumlosen Hügelkuppe so gut wie schattenlos ist, bin ich mal wieder früh unterwegs und erreiche Mykene, als die Sonne gerade eben über die Berge steigt. Trotz der frühen Stunde ist bereits eine japanische Touristengruppe vor Ort, aber ansonsten ist es noch ruhig und ich kann auf den schattigen und nachtkühlen Steinen der Königsgräber unmittelbar hinter dem Löwentor mein Frühstück bei herrlicher Sicht auf die Argolische Ebene genießen und mir dabei ausgiebig die geschichtlichen Hintergründe der 3500 Jahre alten Burg einverleiben.

Erstaunlich übersinnig oder widersinnig ist dieses Leben, das dich dazu bringt, die Wirklichkeit wegen eines Gebildes der Phantasie zu verachten und dich mehr für die Atriden als für dein eigenes Haus zu interessieren.
(Nikos Kazantzakis)

Schon zu unerwartet früher Stunde steigt der Besucherstrom merklich an; der Großteil der Touristen schafft es aber lediglich bis zum eigentlichen Palast auf der Spitze des Hügels, so dass der durchaus interessante Nordost-Flügel der Anlage fast menschenleer bleibt. Dabei ist hier einiges zu sehen - mehr eigentlich, als auf den ausgedehnten Fundamentfeldern zwischen Löwentor und Thronsaal. Das Nordtor zum Beispiel, nur unwesentlich weniger beeindruckend, als das Löwentor, eine gut erhaltene und gefüllte Zisterne und besonders spannend: Ein unzerstörter Durchgang, der in fast 100 Stufen verborgen durch die meterdicken Mauern führt und in alter Zeit dazu diente, die Wasserversorgung der gesamten Burg durch eine außerhalb der Anlage befindlichen Quelle zu sichern. Seltsam und herrlich, dass dieser faszinierende Teil der Burg von so wenigen Besuchern gefunden wird, dass die lautesten Geräusche das Summen der Bienen auf den farbenfrohen Blüten zwischen den Steinen und das vom gegenüberliegenden Berg herüberklingende Läuten der Viehglocken sind. Als ich den Rückweg entlang der Nordmauer antrete, wird die Sonne bereits intensiv und jetzt, zwei Stunden vor Mittag, trudeln die Reisegruppen, eine nach der anderen ein und es wird richtig voll. Wenn das hier schon in der Vorsaison so zugeht, wie mag es dann erst in der Hauptreisezeit aussehen? Ich erschaudere bei der Vorstellung.

"Mykene und Kleoni schäme ich mich, Dir zu zeigen und am meisten Troja; denn ich bin gewiss, Du würdest, wenn Du in die Unterwelt zurückkommst, den Homer erdrosseln, dass er soviel Aufhebens von solchen Kleinigkeiten gemacht hat. Gleichwohl waren sie einst in blühendem Zustand; aber nun sind sie tot: Denn auch Städte, lieber Charon, sterben wie einzelne Menschen."
(Lukian)

Obwohl das meiste, was die Archäologen hier gefunden haben - wie fast immer in Griechenland - vom Athener Nationalmuseum beschlagnahmt wurde, ist der Besuch des angrenzenden Museum mit rekonstruierten Funden und anschaulichen Erklärungen lehrreich und interessant. Nebenbei lerne ich noch einen aus Vólos stammenden Reisegruppenleiter kennen, der mich fast adoptieren und kaum wieder gehen lassen will, als er im Laufe des Gesprächs bemerkt, dass ich den Pílion genauso liebe wie er.

Bevor ich die Stätte verlasse, steht natürlich noch die Besichtigung der riesigen Kuppelgräber auf dem Programm. Lustig dabei ist, dass das "Grab der Klytemnestra" vom Touristenstrom unbeachtet links liegen gelassen wird, während niemand auf die Besichtigung des nur unwesentlich größeren "Grab des Agamemnon" verzichtet. Ob es unter seinem Alias "Schatzhaus des Atreus" auch so berühmt geworden wäre?

Man nennt es das Grab Agamemnons. Gut, vielleicht war hier ein Mann namens Agamemnon beigesetzt worden. Und wenn? Soll ich hier bleiben und wie ein Idiot gaffen?
(Henry Miller)

Zurück in Argos lasse ich den Wagen in den schmucklosen Wohngebieten zwischen Stadtrand und Innenstadt stehen und finde nach wenigen Schritten eine einladende Ouzéri. Nach leichten Kommunikationsproblemen (die in der Hauptsache auf den regional unterschiedlichen Gebrauch von Mesedákia und Mesés zurückzuführen sind) bin ich sicher, eine mittelgroße Portion der gemischten Vorspeisenplatte bestellt zu haben. Was nach einigen Minuten serviert wird, sprengt jedoch beinahe die Transportkapazität des großen Speisetellers. Es gibt

  • Pommes frites
  • Geröstete Brotscheiben
  • ½ geschmorte Aubergine
  • Gyros
  • Eine mittelgroße Spezofai-Wurst
  • In Butter geschmorte grüne Erbsen und Bohnen
  • Ein Stück Feta
  • 5 gegrillte Hähnchenflügel
  • 2 gegrillte Hähnchenunterschenkel

Die 5 € haben sich wirklich gelohnt. Ich bin nicht nur satt, dass ich kaum noch laufen kann, es war auch alles sehr schmackhaft und von hervorragender Qualität. Langsam schlendere ich durch die Straßen - zwischen den Häusern ist es windstill und dementsprechend heiß - und nähere mich allmählich den Überresten der alten römischen Stadt. Das Ausgrabungsgebiet liegt am südwestlichen Stadtrand am Fuße des Stadtbergs, unterhalb der Burg Larissa. Von den Ziegelmauern der römischen Thermen steht noch ungewöhnlich vieles aufrecht, so dass man eine gute Vorstellung von früher bekommt. Erstaunlicherweise ist die Ausgrabungsstätte kostenlos zu besichtigen und außer mir ist kein weiterer Tourist zu sehen. Ich erkläre mir diese Tatsache damit, dass wahrscheinlich keiner in Griechenland römische Reste sehen will - man hat ja schließlich genug Eigenes...

Das einstmals riesige Theater konnte mit seinen 81 Sitzreihen rund 20.000 Menschen aufnehmen und hatte zudem den Vorteil, dass sich Besucher wie ich auf den oberen Reihen am weiten Panoramablick erfreuen konnten, falls das aufgeführte Stück zu langweilig wurde.

Da es mir für weitere Besichtigungen oder einen ausgedehnten Stadtbummel in der späten Mittagssonne zu heiß ist, nehme ich mir den einheimischen Lebensstil zum Vorbild und lasse mich am Rand der Platia Demokratias in einem Kafenion nieder. Wieder fällt mir auf, dass überall dort, wo wenig Tourismus herrscht, meine Bestellung in der Landessprache mit höchstem Wohlwollen aufgenommen wird: "Éna Kafés frapé - métrio parakaló, me gála". Hier sitze ich phantastisch: In tiefem Schatten kann ich - mit Blick auf die Burg - in aller Ruhe die Mittagshitze abwarten.

Ich freute mich, weil für einen Augenblick die lässige Zeit den Rhythmus angenommen hatte, nach dem sich jede ungeduldige Seele sehnt.
(Nikos Kazantzakis)

Während ich im Genuss des Augenblicks verweile, kann ich von meinem Sitzplatz aus das typisch griechische Stadtleben wie in einem Bilderbuch beobachten:

  • Hupende Autos
  • Flanierende Jugendliche
  • Diskutierende Griechen, selbstverständlich rauchend
  • Das typische Kiosk gegenüber, mit mehr Waren, als mancher Supermarkt
  • Gemächlich arbeitende Handwerker
  • Die Stadtburg auf dem Berg
  • Die Kirche als Ortsmittelpunkt
  • Orangenbäume auf dem Platz
  • Der Polizist, der vom Streifenwagen aus mit einer Stadtschönen flirtet
  • Die gebückte Alte in Schwarz, schwerbepackt mit Tüten
  • Großbusige junge Frauen, die ihre Blusen immer eine Konfektionsgröße zu klein kaufen
  • Junge Machos auf laut knatternden Mopeds
  • "Drive In"-Bedienung mitten auf der Straße - die nachfolgenden Autos warten wie selbstverständlich - nun, wo man hupen könnte, tut es keiner

Das Einzige, was hier fehlt ist das Meer. Doch das ist gut so, denn sonst wäre dieser Ort, der so unbeachtet zwischen den touristischen Hochburgen Nafpilon, Epidavros und Mykene liegt, nicht mehr so wundervoll ursprünglich und unverfälscht. Gleichzeitig wird mir schmerzlich bewusst, dass ich morgen um diese Zeit bereits wieder in Deutschland sein werde.

Am späten Nachmittag treffe ich wieder in Nafplion ein. Der zunehmende Wind bringt heute aber keine Frische, sondern trägt feuchte Luft von Westen heran, so dass sich der soeben noch ungetrübte Fernblick binnen weniger Minuten in die sommerübliche "Dunstpampe" verwandelt. Für den letzen Abend habe ich mir einen organisierten Stadtrundgang durch die Altstadt von Nafplion vorgenommen. Mit dem Reiseführer in der Hand folge ich der beschriebenen Route, die die Zeugen der jahrhunderte währenden türkischen Besatzungszeit nicht ausspart und mit der kleinen und großen Moschee an der Platia Syntagma beginnt und kaum eine Sehenswürdigkeit auslässt. Neben unerwartet postkartengeeigneten Motiven gibt es faszinierende Einblicke in das Alltagsleben, wie der Nähmaschinenladen, der auch für eine hundert Jahre alte Singer noch Service bietet.

Leider sind die meisten der Kirchen verschlossen - ungewöhnlich in Griechenland - aber die verbliebenen Offenen reichen trotzdem aus. In der 300 Jahre alten Agios Spyridon, in der 1831 der erste griechische Präsident beim Kirchgang erschossen wurde, begeistern mich die herrlich farbenfroh erhaltenen Deckenfresken, in der Kathedrale Agios Georgios - ebenfalls eine frühere Moschee - beginnt der Pope gerade, als ich eintrete, die Abendmesse mit hohem Weihraucheinsatz zu zelebrieren, sein meditativ-melodischer Gesang ist eine stimmungsvolle Erinnerung.

Ich kehre ins Hotel zurück, um ein letztes Mal meinen Koffer zu packen. Einmal noch möchte ich versuchen, ob es mir nicht doch gelingt, die alte Jugendherberge wieder zu finden. An der Rezeption besorge ich mir einen Stadtplan und dann geht's los. Tatsächlich, da ist sie: Seit Jahren geschlossen und in einem Zustand beginnenden Zerfalls bietet sie einen traurigen Anblick, der hervorragend zu meiner Abschiedsstimmung passt. Während ich gedankenversunken auf die windschiefen Fensterläden blicke, spricht mich ein verloren wirkender, alter Grieche in einwandfreiem Englisch an und fragt mich, ob ich bei der Suche nach einer Unterkunft wäre und Hilfe benötige. Als ich ihm den Grund meines versonnenen Blicks erläutere, wird er plötzlich ganz redselig und so ergibt es sich, dass ich nach 18 Jahren den damaligen Jugendherbergsvater wiedertreffe. Wie klein die Welt ist, bemerkt er, und wie sehr sie sich in dieser Zeit verändert hat - und er sich auch. Ein besinnlicher Abschied!

Nach dem Sonnenuntergang, den ich heute wieder von der Uferpromenade aus beobachte, wage ich mich nach den positiven Erfahrungen der Vortage wieder an eine namhafte Restauration im Zentrum der touristischen Fressmeile. Bei "O Vasilis" beschließe ich den Urlaub mit einem zwiebelreichen Kaninchen-Stifádo, pikant gewürzt mit viel Nelken, Lorbeer und Piment und einem Mythos-Bier. Aus der benachbarten Taverne klingen bekannte griechische Melodien und Lieder, live auf der Bouzouki gespielt herüber, stimmungsvoller geht es kaum noch, da darf dann auch der abschließende Oúzo nicht fehlen. Da ich die Vorspeise eingedenk des allzu üppigen Mittagessens ausnahmsweise habe entfallen lassen, komme ich diesmal mit 9,90 € davon. Analog gestern gönne ich mir zwei Zigarren, die erste beim Spaziergang um den Akronauplia, die zweite auf einem windgeschützten Felsen am Südufer. Das dumpfe Donnern der Brandung in den Hohlräumen zwischen den Felsen, dazu ein paar tanzende Glühwürmchen - heute Abend scheint sich alles zusammen zu tun, um meinen Abschied maximal stimmungsvoll zu gestalten.