Auf dem hoteleigenen Parkplatz leuchten die Orangen an den Bäumen in der kristallklaren Morgensonne. Ich frage den herumlungernden Hotelbesitzer Mikis, ob ich ein paar für die Fahrt pflücken darf. Selbstverständlich, meint er, ich solle so viele nehmen, wie ich will. Er weist mich allerdings darauf hin, dass sie als Folge des ungewöhnlich strengen Winterfrosts in diesem Jahr nicht so gut wären und verpasst mir gleich noch einen Basiskurs in die Grundlagen der Orangenzucht. Ich habe den Eindruck, es ist ihm ein wenig unangenehm, dass er mir keine makellosen Orangen anbieten kann. Er läuft ins Haus und kommt kurz darauf mit einer prallen Riesenorange zurück, um sie mir zu schenken. Diese käme zwar aus Kreta, unterweist er mich, aber nach einem normalen Winter wären seine eigenen genauso gut. Irgendwie rührend, diese Orangenzüchterehre.
Gut versorgt geht es auf den Weg. Die Straße von Diakoftó nach Kalávrita windet sich schnell steigend ins Gebirge hoch und erreicht bald eine Höhe von 1000 Meter. Der Rückblick über den Golf von Korinth ist atemberaubend. Nach kurzer, aber ziegenreicher Fahrt erreiche ich das große Kloster Méga Spíleo ("Große Höhle"), das seit über 1000 Jahren wie ein Schwalbennest an der Felswand klebt. Die Legende erzählt, dass zwei Mönche von einer ortansässigen Hirtin in die Grotte geführt wurden, weil diese dort eine wundertätige Marienikone gefunden hatte, die vom Apostel Lukas selbst gemalt worden sei. Diese Geschichte wird bis heute in der Grotte, die sich in der Felswand hinter dem Kloster befindet, in einer trivial-ästhetischen Weise dargestellt, wie man sie von griechisch-orthodoxen Klöstern sonst nicht gewohnt ist. Die nebenan befindliche Quelle mit jahrhundertealten, von mehreren Klosterbränden rauchgeschwärzten Ikonen wirkt dagegen wesentlich ehrlicher.
Neben der in den Felsen hereingebauten Klosterkirche befindet sich der Stolz des Klosters: eine umfangreiche Reliquiensammlung, die neben den typischen Schädel-, Bein- und sonstigen Knochenresten diverser Heiliger auch gewöhnungsbedürftigere Exponate wie mumifizierte Körperteile von heiliggesprochenen Kreuzrittern samt Rüstung umfasst. Auch sonst zeigt das Kloster einige Eigenartigkeiten: Es besitzt ein großes Gästehaus (sonst pflegen die Mönche lieber die Abgeschiedenheit), aber dafür mangelt es - vermutlich auf Grund der Lage - an einem Kirchturm, was eine alternative Befestigung der Glocken verlangt. Die Lage des Klosters in einer wunderschönen Gebirgslandschaft hat es allerdings mit vielen anderen orthodoxen Klöstern gemeinsam.
An einem gestutzten Baum ist die Glocke des Klosters aufgehängt, sommers und winters den
atmosphärischen Einflüssen preisgegeben und darum bedeckt mit einer schönen bläulichen Patina.
(Gerhart Hauptmann)
Nur wenige Kilometer südlich erreiche ich Kalávrita. In meiner Eigenschaft als Deutscher gelingt es mir nicht, mich hier richtig wohl zu fühlen, allerdings ist dieses Gefühl weit weniger stark, als vor 18 Jahren. Ich sehe es als meine Pflicht an, der Gedenkstätte des Massakers einen Besuch abzustatten - die in großen Buchstaben zu lesenden Worte "ochi pia polemoi" (dt.: keine Kriege mehr) wirkt aktuell traurig grotesk - ein Gefühl der Beklemmung bleibt. Da tröstet es nur wenig, dass der Blick von der Gedenkstätte über den Ort genauso wunderschön ist, wie das Wetter, und dass andere Lebensformen die sonnenwarmen Steine des Denkmals auf ihre Weise zu genießen wissen.
Gegensätze stoßen hier aufeinander und vermischen sich, versöhnen sich, und schaffen
der Harmonie größtes Wunder. Aber wie war das möglich? Wo fand Grazie solchen Ernst, wo Ernst soviel
Grazie? [...] Das ist wahrhaft das griechische Wunder.
(Nikos Kazantzakis)
Meine Trinkwasservorräte kann ich an einem der zahlreichen Brunnen auffüllen - "kalá vrisses" bedeutet auf Deutsch "gute Quellen" - dann setze ich meine Reise fort. Nach kurzer Fahrt erreiche ich Spíleo Límnon, die "Höhle der Seen". Der Sage nach wurden die Töchter des Königs Proitos von Tiryns wegen ihres Spotts gegenüber den Göttern von Zeus und Hera mit Wahnsinn bestraft: Sie hielten sich fortan für Kühe. Die Heilung durch einen Seher, der die Sprache der Tiere verstand (die Idee von Dr. Dolittle ist also ziemlich alt) fand in dieser Höhle statt. Trotz des hohen Eintritts von 7 € leiste ich mir die Führung und bereue es nicht: Die Tropfsteinformationen haben Weltniveau, z.B. sind die steinernen Vorhänge so filigran, dass sie beim Anklopfen mit dem Fingerknöchel wie eine Glocke klingen. Das wirklich Besondere aber ist, dass weite Teile des Höhlenbodens metertief unter Wasser stehen, so dass die Führung auf Stegen verläuft. Die tiefen, stillen Seen, stellenweise terassiert, verleihen der Höhle eine einmalige, unheimliche Atmosphäre. Leider herrscht strenges Photographierverbot, so dass sich die Erinnerungsfotos auf Prospekte beschränken müssen.
Unmittelbar neben dem Höhleneingang befindet sich eine einladende Taverne, wo ich mich bei herrlicher Aussicht mit dem Vorsatz niederlasse, nur einen griechischen Salat zu mir zu nehmen. Der Wirt, der sich an meinen bemühten Sprachversuchen erfreut, bietet mir zusätzlich die heutige Spezialität des Hauses an: eine Hähnchen-Pastete ("chicken-pie"). Ich lehne dankend ab. Er gibt jedoch nicht gleich auf und macht mir folgenden Vorschlag: Er serviert mir eine Portion und ich solle sie versuchen. Wenn die Pastete mir schmeckt und ich sie ganz verzehre, müsse ich sie bezahlen. Würde sie mir jedoch nicht munden - und ich könne soviel probieren, wie ich möchte - ginge das Angebot auf seine Rechnung. Auf den Deal lasse ich mich ein. Was soll ich sagen: Die Pastete schmeckt hervorragend und ich bezahle gerne. Dafür gibt der siegreiche Besitzer mir anschließend einen Tentoúra aus, die nordpeloponnesische Variante eines Jägermeisters, ein dunkelbrauner, sehr süßer Kräuterschnaps mit dominierender Zimt-Note.
Ungeachtet dieser alkoholischen Zugabe setze ich mich wieder ins Auto und fahre - mit vielen kurzen Stopps, um zu rasten oder die Aussicht zu genießen - durch eine grüne Landschaft und durchquere dabei eine Anzahl von pittoresken Gebirgsdörfern: Dimitsána, Stemnítsa und Karítena. Auf der Talbrücke über den Alphiós, die am Ortsrand von Karítena unmittelbar neben der mittelalterlichen und noch intakten Bogenbrücke erbaut wurde, erregt eine Gruppe Jugendlicher meine Aufmerksamkeit. Einer nach dem Anderen seilt sich dort aus ca. 30 - 40 Meter Höhe ab; ihre Professionalität lässt mich vermuten, dass sie das nicht zum erstenmal machen. Der letzte Teil der Fahrt führt mich und meinen kleinen Schwarzen durch ein wahres Meer von Ginster, dessen leuchtendgelbe Blütenpracht die ganze Bergwelt mit einem intensiven Duft erfüllt.
In Andrítsena gibt es mit dem "Theoxenia" zwar ein akzeptables Hotel, aber der geforderte Zimmerpreis von 35 € erscheint mir angesichts der abgelegenen Lage des Ortes und der Ausstattung der Zimmer überhöht, so dass ich erst nach einer kurzen Verhandlungsrunde bei 30 € zuschlage. Die Ortserkundung endet schließlich in einer gemütlichen Taverne, wo ich mich an Tsatsiki und Schweinefleisch vom Holzkohlegrill labe. Hier gibt es sie noch, die strenge Aufteilung der Rollen einer griechischen Tavernenwirtsfamilie: Der Vater steht am Grill, die Mutter bereitet die Salate zu und nimmt die Bestellungen auf, der ältere Sohn serviert die Speisen, während der Jüngste sich mit dem Servieren der Getränke begnügen muss. Mir darf er ein Amstel-Bier bringen, schmackhaftere Sorten sind leider nicht vorrätig.
Nach dem Abendessen ist die Luft hier oben in den Bergen schon so frisch, dass es mir zu kühl ist, um mich mit meiner Zigarre auf einer Bank niederzulassen, deshalb spaziere ich noch einmal durch den Ort. Viele Touristen scheint es hier nicht zu geben, trotzdem sind alle Kafenions, Bars und Tavernen gut besucht: Die komplette männliche Bevölkerung sitzt dort und schaut gebannt auf die Fernseher: Fußball!